Mein grosser Bruder
kenne meinen prächtigen und ruhigen Mann nicht wieder! Er ist wie ein Kind am Tage vor dem Heiligen Abend! Er trällert und lacht den ganzen Tag!“
„Und warum kommt nun Felice zu Tante Charlotte und nicht zu uns?“
„Sie hat doch flehentlich darum gebeten! Nachdem sie pensioniert wurde, weiß sie gar nicht, wie sie ihre Tage in einer vernünftigen Weise ausfüllen soll, und sie ist ja ein Kindernarr!“
„Aha“, sagte ich. „Du hast es also Tante Charlotte erzählt, bevor du deiner besten Freundin und Schwägerin…“
„Das mußte ich doch! Ich mußte doch das Problem mit dem Kindchen regeln. Wenn Tante Charlotte es nicht getan hätte…“
„… hättest du kniefallend mich gebeten, ich verstehe.“
„Ja, aber ich bin sehr froh, daß es mit Tante Charlotte klappte. Ich möchte nur ungern, daß du vielleicht irgendeinen Statistenjob absagen müßtest! Na, dies mußte ich dir also erzählen – ach ja, und dann, daß wir für zwei Tage nach Oslo fahren. Johannes’ Vater wird sechzig, und er wollte so gern seinen einzigen Sohn mitsamt Schwiegertochter bei der Feier mit dabei haben.“
„Ach ja, er hat ja nur zwei Töchter aus seiner zweiten Ehe.“
„Und ist bestimmt einsam, nachdem seine zweite Frau starb. Klar, daß wir fahren. Ein bißchen unpraktisch ist es natürlich, wenige Tage bevor wir unsere große Reise antreten, aber Johannes möchte ungern nein sagen.“
„Sicher, das verstehe ich. Und während ihr in Oslo seid, bleibt auch die Kleine bei Tante Charlotte?“
„Ja, das versteht sich. Oh, Tante Charlotte ist einmalig, du ahnst nicht, was für eine Expertin sie in Säuglingspflege ist. Und eine Geduld hat sie!“
„Ihr könnt also ruhig und mit gutem Gewissen fahren! Wann geht es los?“ fragte ich.
„In drei Wochen! Du ahnst nicht, was ich alles zu tun habe! Ich muß mich auf eine ganz andere Jahreszeit umstellen, da unten ist ja Herbst, das heißt wahrscheinlich ein milder, warmer Herbst, danach muß ich meine Garderobe einrichten. Ja, und dann brauchen wir Visum und Impfung, und der Himmel weiß was.“
„Wenn du nun die Kleine gestillt hättest.“, sagte ich.
„Ja, dann hätte ich nicht fahren können. Gott, wie war ich unglücklich, weil meine Milchquellen so schnell versiegten, aber jetzt macht mir diese Tatsache die Reise möglich! Denn die Fläschchen macht Tante Charlotte genauso sorgfältig wie ich selbst!“
„Oder wie ich!“
„Selbstverständlich, Vivi, du bist auch vorbildlich. Aber ich bin doch froh, daß ich dich diesmal nicht zu belästigen brauche. Vivichen, ich muß los. Wenn ich nicht eiligst zum Fischmarkt renne, ist alles ausverkauft, und ich habe meinem Australienfahrer hoch und heilig gekochten Dorsch zu Mittag versprochen!“
Die Tür schlug mit einem freudigen Knall hinter Elsa zu. Ich ging zurück ins Wohnzimmer. Oh, wie freute ich mich doch für die beiden lieben Menschen! Wie ich ihnen diese Reise gönnte! Ganz besonders Johannes, der auf so unsagbar viel hatte verzichten müssen – wegen Mami und meinetwegen. Wie schön, wie schön, daß das Schicksal sich jetzt für all seine Opfer revanchierte!
Dann setzte ich mich wieder hin mit dem vierten Band von Ibsens gesammelten Werken. Ich schickte der guten Tante Charlotte einen liebevollen Gedanken. Grade jetzt war es sehr schön, daß ich mich nicht als Ersatzmutti für die kleine Felice betätigen mußte!
Denn jetzt hatte ich andere – ganz andere Dinge im Kopf!
Ich gab alles…
So hatte ich meinen Bruder nie gesehen.
Er war ganz aus dem Häuschen vor Freude. Er sprach nur noch von der Reise. Lieber Johannes! Der Himmel weiß, er hatte nicht viele Reisen in seinem Leben unternommen. Abgesehen von ein paar kurzen Geschäftsreisen war er nicht über Norwegens Grenzen hinausgekommen.
Und jetzt wurde es ihm vergönnt, eine so großartige Reise mit seiner geliebten Frau zu unternehmen.
Torsten und ich waren eines Abends bei den beiden, und es wurde geredet, gefragt, erzählt bis Mitternacht!
„Und daß es gerade jetzt sein wird!“ sagte Elsa strahlend. „Es hätte gar nicht besser passen können! Ich bin ja noch beurlaubt und komme gerade zurecht für die ,Baumeister-Solness’-Proben.“
„Welche Ibsen-Dramen gibt es sonst zum Jubiläum?“ fragte ich.
„Ich weiß nicht so recht. Ja, ,Brand’ glaube ich. Freut euch, da ist viel Statisterie. Und vielleicht ,Die Wildente’.“
Ich schluckte und zwang meine Stimme dazu, ruhig zu bleiben, als ich fragte: „Mit dir als
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