Mein Herz ruft deinen Namen
drücken will.
»Sie waren doch Arzt, Kardiologe, nicht wahr?«, fragte mich einmal ein unruhiges Mädchen, eine Haarsträhne um den Finger wickelnd.
»Ja.«
»Sie brachten Herzen in Ordnung.«
»In den Grenzen des Möglichen.«
»Nun, das machen Sie ja jetzt auch, oder? In gewisser Weise bringen Sie Herzen wieder in Ordnung, nicht wahr?«
»Mit dem Skalpell war es einfacher«, erwiderte ich. »Jetzt kann ich höchstens Wege aufzeigen, um es selbst zu tun. Jedes Herz birgt in seinem geheimsten Winkel ein Körnchen Weisheit – es erinnert sich an einen Ort, einen Augenblick, in dem es glücklich war, und nach diesem Ort sehnt es sich, dahin will es zurückkehren, so wie die Zugvögel beim Wechsel der Jahreszeit in ihr Land zurückwollen. Nur das kann ich mit meinen Worten bewirken – den Wunsch wecken, loszufliegen.«
»Und wie heißt dieses Land – das Gelobte Land?«
»Es hat viele Namen, aber nur einen Wesenskern – die Unschuld, das Staunen, das Im-Herzen-rein-Sein.«
»Wieder zum Kind werden?«
»Zu einem unverdorbenen Blick zurückkehren, ohne Arglist, zu jenem Blick, der nicht in jedem Ereignis ein Mittel sieht, sondern eine Möglichkeit zu lieben.«
»Ist das sehr schwierig?«
»Ja. Man braucht ein Leben lang, um zurückzukehren, und manchmal genügt ein Leben gar nicht. Und auch wenn du deinen Blick wiederfindest, musst du achtsam sein und aufpassen, denn der hässliche Zwerg lauert ständig – er erträgt es nicht, dass du aus der winzigen Welt geflohen bist, in die er dich verbannen wollte. Er flüstert dir nämlich ein, du seist irgendwo angekommen, er, der Zwerg ist es, der zu dir sagt: ›Halt, du hast deinen Platz erreicht.‹ Deswegen muss man sich die Ohren verstopfen wie Odysseus’ Gefährten bei den Sirenen und immer weitergehen.«
»Was heißt denn das, weitergehen?«, fragte das Mädchen noch.
»Es heißt, die Stille bewohnen.«
In den ersten Jahren, die ich hier oben lebte, waren die Stille meiner Tage und die Unmöglichkeit, mich abzulenken, am allerschwersten zu ertragen. Aus der Hölle, die ich durchquert hatte, waren mir Verbrennungen geblieben, es roch nach verbrannter Haut; nachts schreckte ich aus dem Schlaf auf, überzeugt, das Knistern der Flammen zu hören. Manchmal tauchte auch das Feuer in meinen Träumen auf. Oft war es dein Auto, das brannte, in anderen Nächten dagegen war ich von einem Brand umgeben – und jenseits der Flammen sah ich Larissa mit einem Baby im Arm, ich hatte den Feuerlöscher in der Hand, aber er funktionierte nicht, ich drückte den Hebel, und statt Schaum kam mit einem Zischen nur ein bisschen Luft heraus. »Flieht!«, schrie ich im Traum. »Flieht!«, und wachte schweißgebadet auf.
Von Larissa hatte ich nichts mehr gehört. Als ich von der Tagung zurückkam, lag der Umschlag mit dem Geld in meinem Briefkasten, grußlos, ohne Kommentar. Am selben Tag spähte ich im Vorbeifahren in ihr Café hinein, sah sie aber nicht. Ich war unentschlossen, was ich tun sollte: sie suchen, um mich zu vergewissern, dass alles so gelaufen war, wie ich es hoffte, oder abwarten, bis sie sich bei mir rührte.
Dieses Zaudern wurde von einem Anruf weggefegt, der mich am folgenden Morgen weckte. Es war die Polizei von Ancona. Man hatte meinen Vater in der Nacht tot auf einer Bank im Passetto-Park aufgefunden. Wann es passiert war, konnten sie nicht sagen, vielleicht war es schon einen ganzen Tag her. Mit dem Hut auf dem Kopf und der dunklen Brille auf der Nase saß er da, als betrachtete er den Horizont. Sein Hündchen hatte die Aufmerksamkeit der Passanten auf ihn gelenkt, indem es unablässig bellend um ihn herumsprang und an seinem Hosenbein zerrte. Man hatte ihn ins Leichenschauhaus gebracht und die kleine Hündin ins städtische Tierheim.
Schon um die Mittagszeit war ich in Ancona, stand reglos an der Tür, so wie ich zehn Jahre zuvor reglos an unserer Wohnungstür gestanden hatte. »Papa … Papa …«, wiederholte ich lauter, wie früher als Kind, wenn ich aus der Schule heimkam. Das Wort flog durch die leeren Räume und setzte sich dann still auf meine Schulter, wie ein abgerichteter Falke. Der Küchentisch war sauber, die Teetasse mit Unterteller und Löffelchen stand im Spülbecken, Laikas Napf war mit frischem Wasser gefüllt. Das einzige Geräusch, das man vernahm, war das Ticken der Standuhr, die ich ihm zum sechzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Tick tack tick tack tick tack . Die Uhr schlug, doch sein Herz war nun stehen geblieben.
Am
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