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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Tamaro
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inniger Hingabe, auf die Hingabe folgte immer die Lüge. Über einen Monat lang tat ich so, als hätte ich den Alkohol tatsächlich aufgegeben. Tatsächlich hatte ich sogar einige Tage versucht, jene Begierde in etwas Konkretes zu verwandeln, doch nach kaum einer Stunde im Krankenhaus begann sich die Zeit auf absurde Art zu dehnen, und zwei Stunden kamen mir so lang vor wie ein ganzer Tag. Diese unbewegliche Zeit – die monolithische Zeit, in der ich keinen einzige Schritt tun konnte – machte mich nervös. War es denn möglich, dass niemand sonst merkte, dass die Uhr stehen geblieben war? Ich verlor rasch die Geduld, die Ineffizienz der Menschen um mich herum verletzte mich. Einmal brüllte ich sogar im Operationssaal los – mir schien, jemand hätte einen Fehler gemacht, doch der einzige Fehler war das Zittern meiner Finger.
    Eines Abends holte ich Larissa von der Arbeit ab, und schon als sie ins Auto stieg, erkannte sie meinen Zustand. »Du hast dich nicht an unsere Abmachung gehalten«, sagte sie und stieg überstürzt wieder aus, als hätte sie sich am Sitz verbrannt. Ich schnappte mir ihren Arm. »Hab dich nicht so, wir haben nur mit den Kollegen angestoßen.« Sie schmollte den ganzen Heimweg. Zu Hause versuchte ich, sie zu küssen, doch sie stieß mich zurück. »Betrunkene küsse ich nicht!« Zorn übermannte mich. Ich packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. »Für wen hältst du dich eigentlich?«, schrie ich. »Was weißt du schon von mir?«
    »Ich glaube, ich bin einfach eine, die dich gern hat«, erwiderte sie. »Ich weiß, dass du nicht so bist.«
    »Willst du mich retten?«, schrie ich. »Bist du wirklich so lieb und brav, ein Engelchen, das vom Himmel kommt?«
    »Ich bin nur ich selbst.«
    »Dann nimm die Maske ab!«
    »Ich habe keine Maske«, antwortete sie eigensinnig.
    »Du lügst!«, schrie ich und schleuderte sie mit all meiner Kraft auf das Sofa. »Du lügst!« Dann rannte ich türenschlagend davon.
    Bei meiner Rückkehr war die Wohnung leer, keine Spur von ihr, nicht einmal eine Nachricht. Nach einer Woche holte ich sie mit einem schönen Strauß Tulpen – ihren Lieblingsblumen – von der Arbeit ab.
    Wie lang ging dieses Auf und Ab? Ein Jahr, vielleicht auch noch einige Monate länger. Von Zeit zu Zeit rief mein Vater an und fragte: »Wann stellst du sie mir vor?«
    »Bald«, antwortete ich immer, »bald machen wir einen Ausflug nach Numana und besuchen dich.«
    Zuletzt überraschte er mich mit einem Besuch. Er war inzwischen in Rente gegangen, hatte sein Studium abgeschlossen und war ein Aktivist beim Verband für die Rechte der Kranken geworden. Er kam wegen einem seiner Fälle nach Rom und bestand darauf, uns zum Mittagessen einzuladen. Es war kurz vor Ostern. Wir aßen draußen in einem Restaurant in der Nähe der Via Aurelia. Er und Larissa unterhielten sich angeregt, vor allem über Musik – ihre gemeinsame Leidenschaft. Auf dem Heimweg musste er ein bisschen drängen, bis Larissa einwilligte, ihm etwas vorzusingen. Auf der Terrasse neben dem Jasminstrauch stehend, trug sie das Stück vor, das sie gerade für eine bevorstehende Messe probte. Um in Übung zu bleiben, trat Larissa nämlich häufig in den Gottesdiensten ihrer Gemeinde auf.
    Bevor er in den Zug stieg, sagte mein Vater, während er mich umarmte: »Du hast einen Engel getroffen.« Ich half ihm die Stufen hinauf und begleitete ihn zu seinem Platz. Schon lange hatte ich ihn nicht mehr so strahlend gesehen. »Siehst du?«, sagte er noch, bevor ich das Abteil verließ. »Das Leben beginnt immer wieder neu.«
    »Das Leben versucht, neu zu beginnen …«, hätte ich ihm gern geantwortet, doch hatte ich nicht das Herz, den Zustand der Verzauberung zu durchbrechen, in dem er sich befand.
    In den folgenden Tagen war Larissa ganz von den Gottesdiensten in Anspruch genommen. Bevor sie verschwand, lud sie mich ein, in die Auferstehungsmesse zu kommen, um sie singen zu hören. »Ich danke dir«, antwortete ich ihr und kniff sie liebevoll in die Wange, »aber in diesen Dingen bin ich ein bisschen eingerostet.«
    Zwei Wochen später gab es ein verlängertes Wochenende. Wir hatten beschlossen, einige Tage Urlaub zu machen, und fuhren in die Toskana. Am letzten Morgen, als wir zwischen den dachlosen Bögen der Kirchenruine von San Galgano herumspazierten, legte sie mir fest den Arm um die Hüfte. »Merkst du denn eigentlich nichts?«, sagte sie mit einer Stimme, die mir freudig und spitzbübisch vorkam.
    Ich drehte mich

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