Die Unvergänglichen: Thriller (German Edition)
Prolog
Cleveland, Ohio
2. April
Annette Chevalier trat auf die Bremse und zuckte zusammen, als der Wagen nach vorn schoss und beinahe gegen das Garagentor prallte. Ihr Mann hatte angedroht, eine Matratze an der vorderen Stoßstange zu befestigen, wenn sie das Tor noch einmal rammte, und es hatte nicht nach einer leeren Drohung geklungen.
Ungeduldig trommelte sie auf dem Lenkrad herum und warf erst einen Blick auf die kaputte Uhr im Armaturenbrett und dann auf ihr Handgelenk, an dem sie schon seit Jahren keine Armbanduhr mehr trug. Sie empfand diese Dinger als lästig, da sie immer nur Druck auf einen ausübten und man sich eher auf Zukünftiges konzentrierte, anstatt sich an dem zu erfreuen, was gerade stattfand. Außerdem erinnerten sie sie nur daran, dass ihre Zeit langsam, aber stetig ablief.
Sie fuhr den Wagen rasch in die Garage, sprang heraus und eilte zur Tür. Ihr Sohn würde an diesem Abend ein Konzert geben, und sie hatte nicht nur versprochen hinzukommen, sondern war auch noch zickig geworden, als er sie skeptisch angesehen und die Augen verdreht hatte, wie es sein Vater auch immer tat.
Durch die Fenster drang genug Licht von außen ins Wohnzimmer, sodass sie auf ihrem hastigen Weg zur Treppe nicht gegen Möbelstücke prallte. Doch als sie an der Küche vorbeikam und die Digitaluhr am Backofen sehen konnte, blieb sie schließlich entmutigt stehen.
Es war schon fast vorbei. Bis sie ihre Laborkleidung gegen etwas Passendes ausgetauscht hätte und zur Schule gefahren wäre, würden alle bereits auf dem Heimweg sein.
Sie stand im Dämmerlicht da und versuchte, sich daran zu erinnern, wie oft so etwas schon geschehen war und wie sich Jonnys Enttäuschung im Laufe der Zeit und mit zunehmendem Alter in Zynismus verwandelt hatte.
Aber dies würde das letzte Mal sein. Morgen wollte sie sich eine Armbanduhr kaufen. Eine mit Alarmfunktion, die so laut war, dass sie sie nicht überhören konnte. Vielleicht gab es sogar eine mit blinkenden Lämpchen.
Sie tappte ohne Eile zum Kühlschrank hinüber und runzelte die Stirn, als sie den mit Frischhaltefolie abgedeckten Teller sah, den ihr Mann für sie bereitgestellt hatte. Auf diese nicht gerade feinfühlige Art machte er ihr klar, dass er sowieso nicht damit gerechnet hatte, sie bei dem Konzert zu sehen.
Sie beschloss, nicht bis zum nächsten Tag zu warten, nahm einen Hühnerflügel vom Teller und ging damit zu ihrem Arbeitszimmer hinüber. Sie wollte jetzt gleich eine Armbanduhr bei Amazon bestellen und sich diese per FedEx direkt ins Büro liefern lassen.
Je weiter sie sich vom Wohnzimmer entfernte, desto dunkler wurde es im Haus, und sie bewegte sich vorsichtig weiter, wollte mit ihren fettigen Fingern aber auch keinen Lichtschalter anfassen. Im Türrahmen blieb sie stehen und kniff die Augen zusammen, da sie nicht genau erkennen konnte, was da vor ihr von der Decke baumelte. Einen Augenblick später wurde die Schreibtischlampe eingeschaltet, woraufhin sie das Hühnchenstück fallen ließ und ihre Augen instinktiv mit einer Hand abschirmte.
»Ich möchte, dass Sie jetzt mucksmäuschenstill sind, Annette.«
Die unbekannte Stimme wirkte völlig ruhig, klang aber so bestimmt, dass der erschreckte Schrei, der ihr schon auf den Lippen lag, im Keim erstickt wurde. Als sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse angepasst hatten, erkannte sie allmählich mehr als nur den Umriss des Mannes, der auf ihrem Stuhl saß.
»Wer … Wer sind Sie?«
Er reagierte nicht, sondern blieb reglos sitzen, sodass ihr Blick zur Decke und zu dem Ding, das von dort herunterbaumelte, wanderte.
Es war eine Schlinge.
»Nehmen Sie sich alles, was Sie wollen«, hörte sie sich sagen.
»Ich will nur Sie, Annette.«
Man hatte sie schon seit ihrem ersten Schultag als Genie bezeichnet, dennoch konnte sie nicht begreifen, was hier gerade vor sich ging. Aufgrund seines Akzents, seiner dunklen Hautfarbe und seiner europäischen Gesichtszüge vermutete sie, dass der Mann vor ihr indischer Herkunft sein musste. Sein Anzug war maßgeschneidert und seine Krawatte sah aus, als hätte sie mehr gekostet als ihre gesamte Garderobe. Er war kein Dieb. Vielleicht ein Vergewaltiger?
Bei diesem Gedanken musste sie beinahe lachen. Ein Mann, der besessen von übergewichtigen Frauen mittleren Alters war, die nicht einmal mit zwanzig viele Blicke auf sich gezogen hatten?
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
Er deutete auf die Schlinge.
»Sind Sie ein Psychopath?«
»Nein.«
»Was wollen Sie dann hier?
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