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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Tamaro
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sie.
    Einige Tage später, Hand in Hand wie der zärtlichste Ehemann und Vater, begleitete ich sie in die Abteilung, in der mein Freund arbeitete. Mit dem gleichen liebevollen Blick zog ich eines Abends bei mir zu Hause auf dem Sofa die Ergebnisse der Untersuchungen hervor und murmelte, sie in den Arm nehmend: »Leider habe ich eine schlimme Nachricht …« Larissa sah mich mit ihren länglichen grünen Augen an.
    »Und zwar?«
    »Unser Kind hat Anenzephalie. Das heißt, es hat kein Gehirn. Es hat sich nicht ausgebildet.«
    Ich spürte, wie sich ihr Körper eines Vögelchens in einem tiefen Atemzug dehnte und dann zusammenzog. Sie wurde ganz klein und vergrub den Kopf an meiner Schulter. Ich zeigte ihr kurz die gefälschte Ultraschallaufnahme und beschrieb sie mit aseptischen technischen Ausdrücken. »Das ist sehr traurig«, sagte ich, ihr über die Haare streichend, »aber mach dir keine Sorgen, ich bin bei dir, ich helfe dir, das Problem zu lösen.«
    Da ich vor der Abreise zu einer Tagung stand, übergab ich ihr einen Umschlag mit Geld für den ersten Bedarf, brachte sie zurück in ihre Wohnung und verschwand dann mit meinem Auto im Dunkel der Nacht.

21
    Ich stehe mit der Sonne auf und ziehe mich bei Sonnenuntergang ins Haus zurück. Im Winter gehe ich sehr früh schlafen. Deshalb bin ich mitten in der Nacht – um zwei, um drei – hellwach.
    In der langen Zeit, in der ich umherirrte wie ein Vagabund, habe ich erkannt, dass die Nacht der Augenblick ist, an dem sich das Gebet mit größerer Kraft zeigt.
    Auch die Mönche stehen mitten in der Nacht auf, und während wir noch schlafen, steigen ihr Flehen und ihr Dank kraftvoll zum Himmel auf.
    Manchmal denke ich, dass gerade diese über unseren Schlaf gesprochenen Worte der Welt ermöglichen weiter zu bestehen – wie Stützbalken, Eisenträger, die das Himmelsgewölbe tragen und verhindern, dass es über unseren Köpfen einstürzt. Man muss blind und taub sein, um nicht zu merken, dass unsere Tage im Hintergrund ein beunruhigendes Knirschen begleitet.
    Was ist das Böse?
    Hat es ein Gesicht?
    Einen Namen?
    Eine Stimme?
    Oder ist es still, unsichtbar, unversöhnlich, dringt in unsere Poren, vermischt sich mit unserem Kreislauf, unseren Knochen, unserem Nervensystem und wird – ohne dass wir es merken – ein untrennbarer Teil unseres Selbst?
    Und wie viele Arten des Bösen gibt es?
    Da ist das gröbste, instinktivste Böse – das Böse der Gewalttäter, der Mörder, und dann gibt es subtilere Arten des Bösen, das manipulative Böse – die, die dich glauben machen, ein der Macht gewidmetes Leben sei schöner und gerechter als ein der Liebe gewidmetes Leben.
    »Wie wird man eigentlich so weise?«, hat mich einmal jemand gefragt.
    »Indem man durch die Hölle geht«, habe ich geantwortet. »Um hinaufzugelangen, muss man vorher sehr tief hinabsteigen.«
    »Aber wie kommt man aus der Hölle heraus?«, drängte mein Gast weiter.
    »Indem man auf Begegnungen vertraut.«
    »Dann muss man sich also zuerst verirren, um den Weg zu finden?«, fragte er verblüfft.
    »Ja, wie der Däumling im Wald.« Ich lächelte. »Man muss sich verlieren, um sich wiederzufinden.«
    »Und woher soll ich wissen, ob der Weg, den ich einschlage, der richtige ist und nicht einer, der mich in den dunkelsten Teil des Waldes führt?«
    In genau dem Augenblick tauchte – aus dem wirklichen Wald – seine Frau auf und rief im Befehlston:
    »Aldo, komm her! Schau nur, mindestens ein Kilo Steinpilze!«
    Meine Antwort prallte an seinem Rücken ab.
    Liebe Nora, wenn ich mir vorstelle, du hättest Zeuge der Jahre sein können, die auf deinen Tod folgten, schäme ich mich schrecklich. Wie konnte ich nur so tief fallen? In irgendeinem Winkel meiner Person war offenbar ein verwerfliches Wesen versteckt. Solange du an meiner Seite warst, blieb es in einer Kammer eingeschlossen. Aber dann, nach deinem Tod, hat sich die Tür geöffnet, und der hässliche Zwerg hat begonnen, in mir zu toben und immer mehr Raum zu erobern.
    In diesen letzten Jahren, während ich den Geschichten und den Fragen vieler Menschen zuhörte, ist mir bewusst geworden, dass in uns allen so ein – mehr oder weniger anmaßender, mehr oder weniger frecher – Zwerg lebt. Einige Lebensgeschichten, wie die meine, sind von Extremen gezeichnet; andere verlaufen in platterer Alltäglichkeit – dennoch ist niemand frei vom Zusammenstoß mit dieser Kraft, die uns unablässig und hartnäckig auf unser kläglichstes Niveau

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