Mein Herz ruft deinen Namen
Mutter erneut einen Vorstoß bei ihrem Mann: »Lea kann laufen«, sagte sie, »Lea spricht«, doch er stellte sich taub.
Als Lea größer wurde, zeigte sich, dass sie einen fröhlichen Charakter hatte und stets lächelte. Eines Tages kam sie ihr mit einem Blatt Papier entgegengelaufen – mit roter Temperafarbe hatte sie ihre Handfläche darauf abgedrückt. »Ist das ein Geschenk für mich?«, fragte die Mutter. »Ja, Mama.« Zum ersten Mal hatte die Tochter sie beim Namen genannt. »Mein Schatz!« Sie nahm sie in den Arm und drückte sie fest an sich. Als sie sie küsste, roch sie ihren Geruch. Den Geruch nach langen, kalten Fluren, nach Desinfektionsmittel, nach immer gleichen Suppen.
Wieder zu Hause, trat sie ihrem Mann entgegen: »Wenigstens am Wochenende!«, schrie sie ihn an und zeigte die Krallen einer Löwin, von denen sie gar nicht wusste, dass sie sie hatte. »Wenigstens ein Wochenende im Monat.« Zuletzt gab er nach. »Wie du willst«, sagte er. »Doch wisse, dass es für sie nur schlimmer sein wird. Du zeigst ihr damit eine Welt, in der sie nie wird leben können.«
Nie, sagte die alte Dame zu mir, war sie in ihrem Herzen so glücklich gewesen wie auf jener Fahrt. Sie hatte einen leeren Koffer dabei, um Leas Sachen einzupacken. Am Sonntag wollte sie mit ihr in einer Konditorei unter den Arkaden heiße Schokolade trinken gehen. Hoch erhobenen Hauptes wollte sie allen ins Gesicht schauen. »Das ist meine Tochter Lea«, wollte sie sagen und sie allen stolz vorstellen.
Hier wurde ihre Erzählung vom Kontrolleur unterbrochen. »Gibt es Neuigkeiten?«
»Keine einzige, solange der Sturm dauert.« Vor den Zugfenstern sah man in der Dunkelheit undeutlich eine weiße Schneelandschaft – weiß und still. Ich hörte den keuchenden Atem meiner Reisegefährtin. Vielleicht hatte sie ein Emphysem, oder die Harpune hatte das Brustfell durchstochen.
»Und dann?«, fragte ich, als der Kontrolleur gegangen war.
»Dann«, antwortete sie, »habe ich Lea nie wiedergesehen. Ich konnte nicht einmal in Erfahrung bringen, wo ihr Körper hingekommen ist.«
Langes Schweigen folgte.
»Europa war von einem Strudel erfasst worden«, fuhr sie schließlich fort, »einem schwarzen Strudel des Wahnsinns und des Todes – vom teuflischen Strudel der Barbarei, des wilden Götzendienstes. Wir tranken weiter Tee, aßen Torte und gingen ins Konzert, wir merkten nichts. Derweil holte sich der Strudel in aller Stille seine Opfer, nachts – womöglich mit dem freundlichen Gesicht der Wissenschaft, mit dem beruhigenden Lächeln dessen, der zum Guten der Menschheit handelt. Man musste vollkommen sein, und das war meine Tochter nicht. Ihr Leben war nutzlos, störend, sie stahl denen Lebensraum, die mehr Recht darauf hatten – den Großen, den Starken, den Ariern, die in naher Zukunft die Welt beherrschen sollten. Mein ganzes Leben ist zuletzt auf ein einziges Bild zusammengeschrumpft – Leas verlorener Blick auf dem Lastwagen, der sie dem Tod entgegenbringt, ihre plötzliche Einsamkeit. Und dann die herzzerreißende Gewissheit, dass sie ihren Mördern mit dem gleichen Vertrauen entgegengelaufen ist, mit dem sie mir immer entgegenkam – lächelnd. In Leas Welt war kein Platz für das Böse.« Mit einer Stimme, die aus einer sehr sehr fernen Welt zu kommen schien, fuhr sie dann fort: »Jahrelang habe ich nur den Tod herbeigesehnt, dennoch ist es mir nie gelungen, diesen Schritt zu tun. Und wissen Sie, warum? Weil ich eine Antwort wollte. Als Kind hatte man mich gelehrt, Gott sei Güte und Allmacht. Wo waren Güte und Allmacht, während Lea missbraucht wurde, während man Experimente an ihrem Körper vornahm?«
»Wo war er?«, fragte ich.
»Er war nicht da. Und wissen Sie, warum? Weil Gott nicht allmächtig ist. Jahrtausende haben wir uns mit dieser Vorstellung geschmeichelt, wie Küken in der lauen Wärme des Brutkastens, dabei stimmt es gar nicht.«
»Kann Gott nicht alles?«
»Er kann gar nichts ohne unsere Mitarbeit.«
»Und was können wir tun?«
»Bei ihm sein, ihm zuhören, ihn schützen. Trösten.«
»Wo ist Gott überhaupt?«
»Gott ist da, wo man ihn hereinlässt.«
In dem Augenblick fuhr der Zug ächzend wieder an.
24
Heute Nacht hat mein ältestes Schaf ein Lämmchen geboren. Ich war darauf gefasst, denn sehr häufig finden die Geburten bei Vollmond statt – und der im Februar ist ein bevorzugter Termin. Um drei Uhr früh bin ich in den Schafstall gegangen, und Pina – so heißt die Veteranin – lief
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