Mein Herz so weiß
haben, während sie sich fragt, welcher Ausdruck am angemessensten und vorteilhaftesten wäre, um endlich dem Mann gegenüberzutreten, der sie viel zu lange hat warten lassen und der jetzt wartet, dass sie herauskommt, mir gegenüberzutreten. Vielleicht ließe sie mich deshalb sehr viel länger als nötig warten, bei geschlossener Badezimmertür, oder aber sie wollte nichts anderes als heimlich und gedämpft weinen, auf dem Toilettendeckel oder am Rand der Badewanne sitzend, nachdem sie sich die Haftschalen herausgenommen hatte, wenn sie welche trug, während sie sich mit einem Handtuch abtrocknete und vor ihren eigenen Augen verbarg, bis es ihr gelang, sich zu beruhigen, sich das Gesicht zu waschen, sich zu schminken und sich so weit in der Gewalt zu haben, dass sie wieder herauskommen konnte, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Ich kann auch nicht ausschließen, dass diese Frau eines Tages Luisa ist und ich nicht der Mann bin an diesem Tag und dass dieser Mann einen Tod von ihr fordert und zu ihr sagt: ›Er oder ich‹, und ich dann ›er‹ bin. Aber in diesem Fall würde ich mich damit zufriedengeben, dass sie wenigstens aus dem Badezimmer herauskäme, statt auf dem kalten Boden liegen zu bleiben mit so weißer Brust und so weißem Herzen und zerknittertem Rock und auch nassen Wangen von der Mischung aus Tränen und Schweiß und Wasser, da der Strahl aus dem Wasserhahn vielleicht vom Becken abprallen würde und Tropfen auf den am Boden liegenden Körper gespritzt wären, Tropfen wie der Regentropfen, der nach dem Wolkenbruch aus der Regenrinne fällt, immer auf dieselbe Stelle, wo die Erde oder die Haut oder das Fleisch allmählich nachgibt, bis sie durchlässig wird und eine Öffnung und vielleicht ein Kanal entsteht, nicht wie der Tropfen aus dem Wasserhahn, der im Abfluss verschwindet, ohne eine Spur im Becken zu hinterlassen, und auch nicht wie der Blutstropfen, der sofort gestillt wird mit dem, was zur Hand ist, ein Stück Stoff oder ein Verband oder ein Handtuch oder zuweilen Wasser, oder zur Hand ist nur die eigene Hand dessen, der Blut verliert, wenn er noch bei Bewusstsein ist und sich nicht selbst verletzt hat, die Hand, die an seinen Magen oder an seine Brust greift, um die Öffnung zuzuhalten. Wer sich selbst verletzt hat, hat dagegen keine Hand und braucht einen anderen, der ihm den Rücken stärkt. Ich stärke ihr den Rücken.
Luisa trällert bisweilen im Badezimmer, während ich zusehe, wie sie sich zurechtmacht, in die Öffnung einer Tür gelehnt, die nicht die unseres Schlafzimmers ist, wie ein faules oder krankes Kind, das die Welt von seinem Kissen aus sieht oder ohne die Schwelle zu überschreiten, und von dort höre ich diesen weiblichen Gesang zwischen den Zähnen, der nicht angestimmt wird, um gehört zu werden, diesen unbedeutenden, absichts- und ziellosen Singsang, der gehört und gelernt und nicht mehr vergessen wird. Diesen Gesang, der dennoch hervorgebracht wird und weder verstummt noch verklingt, nachdem er erklungen ist, wenn ihm die Stille des erwachsenen Lebens folgt, oder vielleicht ist es männlich.
Oktober 1991
Über Javier Marías
Javier Marías, 1951 als Sohn eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller ›Mein Herz so weiß‹ gilt er weltweit als interessantester Erzähler Spaniens. Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Impressum
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Coverabbildung: plainpicture / Millenium
Die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel
›Corazón tan blanco‹ bei Editorial Anagrama, Barcelona
© 1992 Javier Marías
›Mein Herz so weiß‹ erschien erstmalig auf Deutsch 1996 bei Klett-Cotta, Stuttgart.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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ISBN 978-3-10-401995-6
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