Mein Herz so weiß
weiter die Welt begehren, er wird sich weiter verdoppeln und kaum glaubliche Geschichten erzählen, die er erlebt haben mag. Aber ich will lieber nicht an ihn denken, ich denke schon bisweilen an ihn, ohne es zu wollen.
Ich habe noch nicht mit Ranz über das gesprochen, was ich an jenem Abend gehört habe, eigentlich erst vor kurzem, obwohl dieser Abend sehr rasch fernrückt in diesen hektischen Zeiten, die dennoch, wie alle anderen Zeiten, immer das Gleiche in sich fassen, ein Einziges unvollständiges oder vielleicht bereits halb abgelaufenes Leben, das eines jeden, mein eigenes Leben oder das Luisas. Es ist wahrscheinlich, dass wir nie darüber sprechen werden, Ranz weiß wohl auch nicht, ob ich weiß, er wird Luisa nicht einmal gefragt haben, ob sie es mir schließlich erzählt hat, immer gibt es jemanden, der etwas nicht weiß oder nicht wissen will, und so verewigen wir uns. Soweit ich sehe, ist ihr Umgang miteinander der Gleiche wie vorher oder sehr ähnlich, so als hätte es diesen Abend nicht gegeben oder als würde er nicht zählen. Es ist besser so, sie schätzen sich sehr, und sie hört ihm gern zu. Das einzig Neue ist, dass er mir jetzt älter und weniger ironisch vorkommt, fast wie ein alter Mann, was er nie gewesen ist. Sein Gang ist ein wenig unsicher, seine Augen sind weniger beweglich und stumpfer, weniger feurig, wenn sie mich anschauen oder schauen, sie schmeicheln weniger demjenigen, den sie vor sich haben; sein Frauenmund, der meinem so ähnlich ist, verliert die Konturen durch die Falten; seine Augenbrauen haben keine Kraft, um sich stark zu heben; manchmal steckt er die Arme in die Ärmel des Regenmantels, ich bin sicher, dass er sie im nächsten Winter immer in die des Mantels stecken wird. Wir sehen uns oft, jetzt, da ich weiß, dass ich in Madrid mehr Ruhe haben werde und ein wenig Urlaub mache. Wir gehen an vielen Tagen zum Mittagessen aus, mit oder ohne Luisa, zu ›La Trainera‹, zu ›La Ancha‹, zu ›La Dorada‹ und zum ›Alkalde‹, auch zu ›Nicolas‹, zu ›Rugantino‹, zu ›Fortuny‹ und ›El Cafe‹ und ›La Fonda‹, er wechselt gern das Restaurant. Er erzählt mir noch immer bekannte oder unbekannte Geschichten aus seinen aktiven Jahren, aus seinen Reisejahren und seinen Jahren im Prado, von seinen Beziehungen zu Millionären und Bankdirektoren, die ihn schon vergessen haben, zu alt, um ihnen nützlich oder amüsant zu erscheinen oder zu einem Besuch bei ihnen einfliegen zu können, sehr reiche Menschen wollen empfangen und reisen nicht, um einen Freund zu sehen. Ich habe an das gedacht, was Ranz Luisa erzählt hat und ich heimlich mitgehört habe, während ich rauchend auf dem Fußende meines Bettes saß. Obwohl ich es vergessen werde, vergesse ich es noch nicht, und wenn ich jetzt das kleine Bild meiner Tante Teresa anschaue, die nie meine Tante gewesen ist, das Bild, das Ranz in seiner Wohnung bewahrt, betrachte ich es aufmerksamer als je zuvor während meiner Kindheit und Jugend. Vielleicht schaue ich es an, wie man die Fotografien derer anschaut, die uns nicht und die wir nicht mehr sehen, aus Verstimmung oder Erschöpfung oder ihrer Abwesenheit wegen, die Bilder, die am Ende ihre Gesichtszüge usurpieren, die verblassen, die Fotografien immer ruhend in einem einzigen Tag, an den niemand sich erinnert, an dem sie aufgenommen wurden; wie meine Großmutter und meine Mutter bisweilen mit reglosen Augen oder einfältigem Lächeln schauten, nachdem sie ihr Lachen unterbrochen hatten, mit verlorenem Blick, die Augen trocken und ohne zu blinzeln, wie jemand, der gerade aufgewacht ist und noch nicht begreift, so muss Gloria im letzten Augenblick geschaut haben, von ihr gibt es kein Bild, wenn sie das Gesicht wenden konnte; sicher ohne nachzudenken, ohne sich überhaupt zu erinnern, mit einem Gefühl von Schmerz oder nachträglicher Angst, Schmerz und Angst sind nicht flüchtig, den Blick auf Gesichter gerichtet, die man Gestalt annehmen, aber nicht altern sah, räumliche Gesichter, die flach geworden sind, Gesichter in Bewegung, die wir uns plötzlich im Zustand der Ruhe zu sehen angewöhnen, nicht sie, sondern ihr Bild, das sie ersetzt, so wie ich mich vorbereite, meinen Vater anzuschauen, so wie Luisa sich eines Tages angewöhnen wird, mein Bild anzuschauen, wenn sie nicht einmal mehr ihr halbes Leben vor sich hat und meines vorbei ist. Obwohl niemand die Reihenfolge der Toten oder die der Lebenden kennt, weiß, wer zuerst mit dem Schmerz oder zuerst mit der Angst an
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