Agnes und der Engel
Ein Gasthof in Schöppingen, A.D 1649
„Mein Herr möchte in seinem Zimmer speisen.“
Draußen krachte der Donner und der durchnässte Diener feilschte mit der Wirtin um Preis und Bedingung der Übernachtung. Jetzt äußerte er seine Sonderwünsche. Das Gewitter hatte sie gezwungen, in Schöppingen Quartier zu nehmen, keine Stunde vom Ziel der Reise entfernt, und dementsprechend war seine Laune.
„Könnt Ihr garantieren, dass unser Aufenthalt hier ohne Aufsehen bleibt? Mein Herr hat Gründe, unerkannt zu bleiben.“
Die Wirtin zog eine Augenbraue hoch. In ihrem Gesicht zeichneten sich ihre Überlegungen ab, wie viel sie von diesen unerwarteten Gästen verlangen konnte. Was der Herr, der sich schon zurückgezogen hatte, verbergen wollte, interessierte sie dabei weniger, als ihr Profit.
„Ich werde Agnes zu ihm schicken. Sie ist stumm. Wenn Ihr mich aber in Schwierigkeiten bringt, wird Euch das teuer zu stehen kommen.“
„Mein Herr ist ein ehrlicher Tuchhändler auf dem Weg nach Billerbeck. Ohne diesen Wolkenbruch wären wir in einer Stunde dort angelangt. Zu Eurem Glück sitzen wir hier heute Abend fest und werden essen, trinken und übernachten. Schickt ein ordentliches Mahl und heißen Würzwein in die Kammer und lasst ein Bad richten.“ Eine weitere Münze wechselte den Besitzer und die Wirtin war zufrieden.
Sie stellte ein üppiges Mahl zusammen und rief nach ihrer Magd Agnes.
„Bring’ dies nach oben und schaffe auch den Zuber und Badewasser hinauf.“
Agnes nickte und machte sich daran, das schwere Tablett die Treppe hinauf zu tragen. Mühsam balancierte sie das Tablett auf einem Arm, um mit der anderen Hand flüchtig anklopfen zu können.
„Wer da?“
Als Antwort klopfte sie ein weiteres Mal und die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet. Sie hielt das Tablett in den Lichtschein, der aus dem Zimmer drang.
„Du bist die stumme Magd?“, klang es misstrauisch.
Als Agnes nickte, wurde die Tür geöffnet und der Diener bedeutete ihr, das Tablett hereinzubringen. Flüchtig schaute sie zum Fenster, wo ein weiterer Mann stand, der bisher nichts gesagt hatte.
In dem Moment, als sie das Essen auf dem Tisch angerichtet hatte, blitzte es und krachte kurz darauf ohrenbetäubend.
„In’s hemelsnaam...“ klang es erschrocken vom Fenster. Der Mann war näher ans Fenster getreten und zeichnete sich gegen einen weiteren Blitz ab. Schlank mit breiten Schultern, fielen Agnes vor allem seine hellblonden Haare ins Auge, die elektrisiert in alle Richtungen abstanden.
„Dat was dichtbij! Jezus, Maria en Jozef, help ons in dit uur...“
Agnes verstand nicht, was er sagte, aber der Klang seiner Sprache rührte tief in ihr eine verschlossene Erinnerung an. ‘Die Sprache der Engel’, dachte sie, und sank betend auf die Knie.
„Weib, das war nur ein Blitz. Steh’ auf und kümmere dich um das Bad für meinen Herrn.“ Die rauen Worte wurde durch einen fürsorglichen Unterton gemildert und sanft nahm der Diener Agnes am Arm, um sie auf die Füße zu ziehen.
„Ihr...“, sie räusperte sich, schluckte, „Ihr seid zurückgekehrt?“
Als der Diener ihre krächzende Stimme hörte, ließ er sie los, als hätte er sich an ihr verbrannt. Die Wirtin hatte gesagt, die Magd sei stumm. Versuchte sie, ihn zu hintergehen? Unsicher blickte er zu seinem Herrn, der die Magd nachdenklich betrachtete, und wartete ab.
Agnes kniete immer noch am Boden, die Hände zum Gebet zusammengelegt und den Blick zu dem jungen Herrn erhoben.
„Seid Ihr... nach all den Jahren... gekommen, um mich zu holen?“ Hoffnung klang in der Stimme der Magd und ein Aufleuchten in ihrem Gesicht begleitete diesen Satz. Mühsam, als müsse sie um jedes Wort ringen, brachte sie ihn hervor, ohne sich vom Fleck zu rühren.
„Agnes?!“ Alle im Raum zuckten beim keifenden Ruf der Wirtin zusammen. „Wo treibst du dich herum, du nichtsnutziges Weib?“
Agnes ließ die Hände sinken. Mit unsicherer Stimme, fast flehend wandte sie sich wieder an den Handelsherren. „Seid Ihr wegen mir zurückgekommen?“
„Was bildest du dir ein, Weib? Wir sind zufällig hier und du wirst jetzt das Bad für meinen Herrn bereiten, bevor du Ärger mit der Wirtin bekommst und das Aufsehen noch größer wird.“ Der Diener ahnte, dass hier etwas vorging, das mit einem unauffälligen Aufenthalt nicht vereinbar sein würde.
„Was treibst du denn da?“ Die Wirtin stand in der offenen Tür zur Treppe. „Es tut mir leid, meine Herren, unsere Magd ist gewöhnlich
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