Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
wird.«
»Beweis?«
»Ja, Beweis, Oliver«, erklärte die Königin. » Dich .«
Oliver schüttelte den Kopf. »Das hier hat nichts mit Rapscullio zu tun. Es geht um ein Mädchen namens Seraphima.«
Königin Maureen nahm die Hand ihres Sohnes. »Versprich mir, dass du nicht kämpfen wirst. Gegen nichts und niemanden.«
»Selbst wenn ich es wollte, ich wüsste wahrscheinlich gar nicht, wie das geht.« Schmunzelnd schüttelte Oliver den Kopf. »Ich habe mir eigentlich noch gar keinen Schlachtplan zurechtgelegt.«
»Oliver, du bist mit vielen anderen Talenten gesegnet. Wenn es jemand schaffen kann, dann du.« Seine Mutter stand auf und griff nach dem Lederband, das sie um den Hals trug. »Aber für alle Fälle solltest du das hier mitnehmen.«
Aus dem Mieder ihres Kleides zog sie eine winzige runde Scheibe heraus, die als Anhänger an dem Halsband hing, und reichte sie Oliver.
»Das ist ein Kompass«, sagte er.
Königin Maureen nickte. »Er hat deinem Vater gehört«, erklärte sie. »Und er hat ihn von mir bekommen. Der Kompass wurde in meiner Familie von Generation zu Generation weitervererbt.« Sie sah ihren Sohn an. »Er weist nicht nach Norden, sondern den Weg nach Hause. Dein Vater hat ihn seinen Glücksbringer genannt.«
Oliver dachte an seinen tapferen, kühnen Vater, der mit diesem Band um den Hals losgeritten war, um gegen einen Drachen zu kämpfen. Ja, der Kompass hatte ihn nach Hause gebracht, aber nicht lebendig. Er schluckte und fragte sich, wie um alles in der Welt er dieses Mädchen retten sollte, wenn er nicht einmal ein Schwert hatte. »Vater hatte bestimmt nie Angst«, sagte er ganz leise.
»Angst zu haben heißt nur, dass man etwas hat, weshalb es sich lohnt zurückzukehren, das war einer der Sprüche deines Vaters«, erklärte ihm seine Mutter. »Und mir hat er immer gesagt, er habe ununterbrochen Angst.«
Oliver küsste sie auf die Wange und streifte sich das Band mit dem Kompass über den Kopf. Als er durch die Tür der Großen Halle schritt, fand er sich mit dem Gedanken ab, dass sein Leben bald sehr, sehr kompliziert sein würde.
O liver
Also, nur damit ihr es wisst, wenn es heißt »Es war einmal …«, dann ist das eine Lüge.
Es war nämlich nicht einmal. Und auch nicht zweimal. Es war hunderte Male, immer wieder, jedes Mal, wenn jemand dieses staubige alte Buch aufschlägt.
»Oliver«, sagt mein bester Freund. »Schach.«
Ich blicke auf das Schachbrett, das eigentlich gar kein echtes Schachbrett ist. Es sind nur in den Sand des Ewigkeitsstrands geritzte Quadrate und dazu einige Feen, die so nett sind, Bauern, Läufer und Damen zu spielen. Weil in diesem Märchen kein Schachbrett vorkommt, müssen wir uns damit behelfen, und natürlich müssen wir anschließend sämtliche Spuren verwischen, sonst könnte jemand auf den Gedanken kommen, es stecke mehr hinter der Geschichte als das, was er gelesen hat.
Ich weiß nicht mehr, wann mir zum ersten Mal aufgefallen ist, dass das Leben, wie ich es kenne, nicht real ist. Dass die Rolle, die ich wieder und wieder spiele, eben nur eine Rolle ist. Und dass für dieses Schauspiel noch eine weitere Partei nötig ist – diese großen, runden Gesichter, die jedes Mal zu Beginn der Geschichte unseren Himmel eintrüben. Was auf den Seiten dieses Buches steht, entspricht nicht immer den tatsächlichen Verhältnissen. Wenn wir nicht gerade unsere Rollen spielen, können wir nämlich tun und lassen, was wir wollen. Es ist wirklich ziemlich kompliziert. Ich bin Prinz Oliver, aber zugleich bin ich auch nicht Prinz Oliver. Wenn dieses Buch zugeschlagen wird, kann ich aufhören so zu tun, als würde ich mich für Seraphima interessieren oder gegen einen Drachen kämpfen, und stattdessen mit Frump herumhängen oder einen der Tränke kosten, die Königin Maureen so gerne in ihrer Küche zusammenbraut. Oder ich kann mit den Piraten, die eigentlich ganz nette Kerle sind, mal kurz ins Meer springen. Mit anderen Worten, jenseits des Lebens, das wir spielen, wenn ein Leser das Buch aufschlägt, hat jeder von uns noch ein zweites Leben. Allen anderen hier reicht es, das zu wissen. Es macht ihnen nichts aus, die Geschichte immer wieder aufs Neue zu spielen und auch nachdem die Leser fort sind, in der Kulisse gefangen zu sein. Aber ich habe mir schon immer Gedanken gemacht. Es leuchtet doch ein: Wenn ich ein Leben außerhalb dieser Geschichte habe, muss es bei den Lesern, deren Gesichter über uns schweben, ebenso sein. Und sie sind nicht zwischen den
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