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Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition)

Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition)

Titel: Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Hannawald
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Bartels sagte mit einer Stimme, die das Dramatische der Situation bestens transportierte: »Jetzt die Befreiung. Auf gehtʹs, Sven Hannawald. Er kann den Jubel hören.«
    Aber in diesem Moment hörte ich keinen Jubel von den Zuschauern. Ich hörte nur mein Herz pochen. Sonst nichts. Ich sah die Anlaufspur vor mir, sonst nichts. Ich war jetzt in einem Tunnel.
    Momente für die Ewigkeit
    In diesem Moment schwenkten Tausende ihre Fahnen an der Paul-Ausserleitner-Schanze, die nach einem einheimischen Skispringer benannt ist, der hier vor genau 50 Jahren beim Training schwer stürzte und nach vier Tagen seinen Verletzungen erlag. An diesem Dreikönigstag tröteten die Zuschauer ausgelassen, sie schrien begeistert meinen Namen, sie produzierten unglaublichen Lärm. Unter ihnen auch meine Eltern und meine Schwester Jeannette. Gleich würden sie wieder diese Holzrassel Marke Eigenbau bedienen, in die Papa die Eckdaten meiner größten Erfolge geritzt hatte.
    Aber auch meine Familie war jetzt weit weg. In diesem Moment nahm ich wie durch Watte wahr, was sich um mich herum abspielte. Ich befand mich in einem Tunnel.
    In diesem Moment dachte ich – an gar nichts.
    »Hanni – ziiiiieeeeehhhhh«
    In diesem Moment hatte Wolfi Steiert einen gefühlten Puls von 200 und schaute gebannt zu mir auf den Anlaufturm. Ebenso wie Reinhard Heß, unser Bundestrainer. Der hielt seine kleine Fahne in den Deutschlandfarben in der rechten Hand, um mich gleich abzuwinken. Servicemann Peter Lange, der sich um meine Skier gekümmert hatte, schlug die Hände vors Gesicht. Er war zu aufgeregt, konnte einfach nicht auf den Monitor schauen. Er drückte sein Funkgerät fest vors Ohr.
    In diesem Moment schaute auch Rosi Kenzler zu mir hoch. Meine Ersatzmama. Aus Hinterzarten im Schwarzwald war sie angereist, zusammen mit einer ganzen Busladung, darunter auch eine Musikkapelle. Und sie würde gleich wieder meine »Luftfahrt« mit einem leidenschaftlichen »Hanni – ziiiiieeeeehhhhh« unterstützen.
    In diesem Moment saß in Johanngeorgenstadt im Erzgebirge auch Erich Hilbig vor dem Fernseher, um seinen »jungen Hüpfer«, dem er das Springen beigebracht hatte, zu sehen.
    Und Nora Maasberg drückte mir in Untermaiselstein im Allgäu die Daumen. Sie konnte in diesem Moment ebenso wenig wie ich ahnen, dass ich 841 Tage später vor ihr sitzen würde. Als Patient. Für eine Anamnese. Also um über mich einen psychopathologischen Befund zu erstellen.
    In diesem Moment fühlte ich – gar nichts.
    Dieser Moment, dieser alles entscheidende Moment – wie hätte er sich anfühlen sollen? Es gibt ja große Momente im Sport, die bleiben. Etwa der mit Helmut Rahn im WM-Finale. Als er an einem regennassen Julitag 1954 im Berner Wankdorfstadion in der 85. Spielminute den Ball von Hans Schäfer vor die Füße gespielt bekam, während er 17 Meter vor dem ungarischen Tor lauerte. Es stand noch 2 : 2 für die Underdogs aus Deutschland – bis dahin ein erstaunliches Resultat. Rahn nahm den Ball an, lief mit ihm zwei Schritt nach links, lief und zog dann ab. Eine Sekunde später, als Schütze des dritten Tores, war er unsterblich geworden.
    Ich weiß nicht, was Rahn damals vor seinem alles entscheidenden Torschuss durch den Kopf ging. Ich dachte jetzt an gar nichts. Auch in den Tagen davor sperrte ich alle Gedanken aus, von der viele in meiner Umgebung elektrisiert schienen: Da würde ein Skispringer für einen großen, für einen sporthistorischen Moment sorgen können. Und dieser Athlet war ich. Aber ich fühlte die Größe der Chance, Sportgeschichte zu schreiben, nicht.
    Ich fühlte – gar nichts.
    »Physisch ist Hannawald eigentlich nichts Besonderes, aber er hat eine brillante Sprungtechnik.« So schrieb die finnische Zeitschrift »Ilta-Sanomat«.
    Es kommt auf Millisekunden an
    Ich weiß nicht, woran der damals 17-jährige Boris Becker dachte, als er am 5. Juli 1985 im Finale von Wimbledon auf dem Center Court stand und im vierten Satz bei 5 : 3 und 40 : 15 seinen ersten Matchball gegen Kevin Curren hatte. Ein großer Moment. Auf ihn schauten damals Millionen Menschen. Wie auf mich jetzt. Sie hielten den Atem an, drückten dem jungen Rotschopf aus dem badischen Leimen die Daumen. Erster Aufschlag. Ins Aus. Zweiter Aufschlag. Doppelfehler. Nur noch 40 : 30. Aber bei diesem Stand hatte Becker ja noch einen weiteren Matchball.
    Nein, für mich würde es keine zweite Chance geben. Beim Skispringen sind zwar zwei Durchgänge vorgesehen. Aber bei jedem dieser beiden

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