Mein Höhenflug, mein Absturz, meine Landung im Leben (German Edition)
2003 habe er sich völlig erschöpft gefühlt, habe an nichts mehr Freude gehabt – auch ein Urlaub habe da nicht mehr geholfen. Er fühle sich entscheidungsunfähig – jede Entscheidung, die er treffe, verursache ein ›flaues Gefühl im Bauch‹. Ratschläge könne er aber auch nicht annehmen. Er zweifle vieles an, was ihm (z. B. vom Trainer) vorgegeben werde, sei wie in einer ›Trotzphase‹. Er fühle sich zunehmend schlapp, gleichzeitig unruhig, fast wie in ›Torschlusspanik‹. Der Erfolgsdruck mache ihn fertig.
Das körperliche und seelische Tief sei durch die Misserfolge natürlich noch verstärkt worden. Die Vorstellung, die Karriere aufzugeben, löse Angst und Unruhe aus. Obwohl er sich schon seit geraumer Zeit ein ›normales Leben‹ wünsche mit Haus und Familie, beunruhige ihn diese Vorstellung derzeit.
Er beklagt, auch seiner Partnerin nichts geben zu können, er kreise nur um sich, sein Kopf ›platze‹ fast. Er habe schlecht ein- und durchschlafen können, habe nicht tief geschlafen. Dabei sei der Schlaf für ihn ein ganz wichtiger Regenerationsfaktor. Er könne sich derzeit schlecht konzentrieren, könne kaum etwas lesen.
»Ausgeprägtes Burn-out-Syndrom«
Seit Jahren achtete Herr H. stark auf das Essen, versuchte über spezielle Diäten zum einen sein Idealgewicht zu halten, zum anderen seine Leistungsfähigkeit zu verbessern. Sein niedrigstes Gewicht sei 60 Kilo gewesen (bei einer Körpergröße von 1,85 Metern entspricht das einem BMI von 18). Derzeit wiege er 64 Kilo. Im Spiegel sehe er aufgeschwemmt aus, das Essen liege ihm im Magen. Gleichzeitig denke er permanent an das Essen – im Sinne von: ›was vertrage ich, was tut mir gut.‹«
Die Diagnose lautete: »schwere depressive Episode mit somatischem Syndrom«; »atypische Anorexia nervosa«; »ausgeprägtes Burn-out-Syndrom«.
War diese trostlose Zustandsbeschreibung die Quittung für mein bisheriges Leben?
Der »allseitige Normerfüller«
Meine Kindheit in Johanngeorgenstadt im Erzgebirge: wie ich Teil des erfolgreichen DDR-Sportsystems wurde und im Bezirkstrainingszentrum ausgebildet wurde
Als Elfjähriger bei einem Nachwuchs-wettkampf in Johanngeorgenstadt. Schon damals (1985) wollte ich immer am weitesten springen.
Es wurde eine denkwürdige Zeitreise. Wann war ich das letzte Mal hier? Stimmt, vor drei Jahren, als Oma Anita ihren Achtzigsten feierte. Gerade ein einziges Mal in den letzten 22 Jahren bin ich noch kurz in meinem Heimatort Johanngeorgenstadt gewesen. Ich kann es selbst kaum glauben.
Jetzt war ich wirklich gespannt: Was erwartet mich wohl bei diesem Trip in meine Vergangenheit? Ist mir die kleine Welt, die so lange mein Universum gewesen ist, noch vertraut, ein wenig wenigstens, oder ist mir inzwischen alles völlig fremd?
Seltsam, seit ich weg bin, habe ich nur selten an die alten Zeiten in Johanngeorgenstadt gedacht, diese Kleinstadt im Erzgebirge, die direkt an der Grenze zu Tschechien liegt. Obwohl ich hier meine Wurzeln habe. Obwohl mich die ersten Jahre natürlich sehr geprägt haben.
Ich bin ein Kind der DDR
Auch wenn die meisten Menschen wohl glauben, ich wäre ein »Schwarzwälder Bub«, weil es die Medien so transportiert haben, auch wenn ich inzwischen tatsächlich die meiste Zeit meines Lebens in Furtwangen und in Hinterzarten und kurz in Berlin gelebt habe und seit fünf Jahren in München wohne – ich bin ein Kind der DDR.
Wie fast alle Kinder dort kam ich schon mit sechs Monaten in einen Hort, dann in den Kindergarten und wurde auf die Mitgliedschaft bei den Jungen Pionieren vorbereitet, die dann nach Eintritt in die Schule durch ein feierliches Gelöbnis bekräftigt wurde. Mit sechs Jahren geriet ich in das perfekt durchorganisierte Sportsystem der DDR, nachdem man mich vermessen, untersucht und getestet hatte. Meine Daten wurden in »Erhebungs- und Leistungskontrollbögen« der ESA (einheitliche Sichtung und Auswahl für die Trainingszentren und Trainingsstützpunkte des DTSB) eingetragen und ausgewertet – ich war fürs TZ (Trainingszentrum) geeignet.
Ich bin also im damaligen »Wunderland des Sports« groß geworden und habe die sportliche Ausbildung im Kinderkader und den bewährten Förderstufen erfolgreich durchlaufen. Zunächst in meinem Heimatort, im Bezirkstrainingszentrum »Hans Friedrich« der SG Dynamo Johanngeorgenstadt, ehe ich mit sehr guter Perspektive in die »Kinder- und Jugendsportschule« (KJS) nach Klingenthal delegiert wurde – als Zwölfjähriger.
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