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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Giordano
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einzige Zedernallee auf der Welt!
    Ringsherum Stille, weidende Schafe, südlich, von leichten Wolken geküßt, die Höhenzüge der Mourne Mountains - und der Lack der Morgensonne auf den unvergleichlichen Baumwundern aus der Gattung der Kieferngewächse.
    Weiter hinein in den Park.
    Eine Holzbrücke, unter der ein Bach gluckst. Immer seinem Lauf entlang, immer tiefer in den Dschungel von Grün. Gruftig ist es hier, die Sonnenstrahlen haben es schwer, durch das dichte Blattwerk zu dringen. Am anderen Ufer Rhododendron, dunkel leuchtend, darüber durchsichtige Blätter, flirrend in einem Wind, den ich nicht spüre.
    Ein kleiner Fall, ein felsgesäumtes Bett, in dem das Wasser zu stehen scheint, eine Minilagune, auf deren Oberfläche Blätter schwimmen, unbewegt. Gleich dahinter aber eine Schnelle, über die der Bach sichtbar und rasch strömt. Und doch bewegt sich auch nahe davor nichts, während auf dem klaren Grund Jungforellen hin- und herflitzen. Des Rätsels Lösung: Während das warme Oberwasser steht, ja, das Laub auf ihm gar in die Gegenrichtung treibt, fließt das kalte Wasser unten ab und eilt über den urigen Katarakt der Irischen See zu.
    Dann The Old Bridge, das Geländer aus Naturstein - zinnenbewehrt, grün behängen wölbt sich ihr Bogen hoch über dem Bach.
    Ein wenig weiter eine andere Kaskade. Ich setze mich auf einen der bemoosten Steine und fühle mich wie der einzige Mensch auf dem organischen Schorf unseres Planeten.
    Sonnenflecken zwischen den Bäumen, die dicht stehen und ringsum einen undurchsichtigen, einen schweigenden Wald bilden.
    Frühe Phantasien werden in mir wach, wie immer in solcher Umgebung, aber hier mehr, hier intensiver noch als sonst, Waldgedanken vom Knabenalter an: Shawnees am Westfuß der Appalachen, auf Schleichpfaden in Kentucky, den »dunklen und blutigen Gründen« - wo taucht die nächste Siedlung der Weißen auf? Wo ist Fort Boonesborough? Und wo liegt das Chillicothe des Häuptlings Cornstalks?
    Neben mir rauscht der Bach, und das fördert solche Bilder: von Tecumseh, dem indianischen Genie, seinem großen und hoffnungslosen Kampf gegen die weiße Übermacht; von diesem heroisch-aussichtslosen Kampf der Ureinwohner über vier Jahrhunderte gegen eine rastlos vorrückende Grenze, die auch zum Schicksal so vieler Irinnen und Iren wurde. Überall dort haben sie gelebt, gearbeitet, sind sie gestorben, die Kennedys und McCloys, die McCarthys und die Fitzgeralds, vertrieben aus ihrer Heimat durch Not und Unterdrückung schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Tief durchwirkt hat die irische Geschichte die amerikanische, ist mit ihr gezogen, von der Cheasepeak Bay am Atlantik über den Mississippi, die Prärien und die Rockies bis an die kalifornischen Gestade des Pazifik - immer westward ho!
    Solche also gar nicht so abwegigen Gedanken kommen mir hier, in den Wäldern des Tollymore Forest Park Nordirlands, an diesem Bach.
    Bis ich plötzlich aufgestört werde aus der Illusion, der einzige Erdenbewohner zu sein oder doch wenigstens heute alleiniger Besucher dieser Oase irdischer Naturschönheit - durch eine tobende Schar von Kindern zwischen elf und zwölfjahren, Mädchen und Jungen, eine Schulklasse.
    An einer Gabelung schreien die einen »This way!«, während andere »No, this way!« brüllen, um dann gemeinsam in die Richtung zu stürmen, die die Lehrerin angegeben hat: »That way!«
    Unter den Wipfeln hoher Bäume dann verstummt das Geschrei, breitet sich andächtige Ruhe aus, verschwindet die Schar lautlos im Schoß des Forsts.
    Und so plötzlich, wie sie gekommen waren, sind sie auch wieder verschwunden, auf einen Schlag wie verflogen, meine Flüche gegen Massentourismus, mein Grimm gegen die Anmaßung, daß auch andere die Herrlichkeit des Tollymore Forest Park in den Mourne Mountains genießen wollen - diese geschützte Schönheit sollte jeder erleben.
    Dann hinaus auf die Straße nach Newcastle und an der Küste entlang nach Süden. Rechts kahl und mächtig die Berge, steinige Hänge, Felsen wie Stirnhörner, und mitten darin, Gipfel des Gebirgsstocks, der Slieve Donard - nur 836 Meter hoch und doch, so nahe dem Meeresspiegel, ragend wie ein Miniaturhima-laya.
    Am Ausgang des Silence Valley, vor Kilkeel, steige ich aus und gehe an den Strand.
    Vor mir die Irische See, schimmernd wie ein blank polierter Spiegel und schiffsfrei bis an den Horizont.
     

Maureen - ein Epilog
     
    Ich komme von Norden und empfinde die Hinweisschilder »Cahirciveen 62 km«,

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