Mein ist der Tod
antwortete schnell: Ich auch nicht. Ich muss sie erst erleben.
Er hatte nicht gesagt allein , aber sie hatte es gehört.
Bist du dir eigentlich über jede deiner Handlungen im Klaren?
Seine Antwort kam schnell: Nein. Ich weiß nicht mal, ob ich mir das wünschen sollte.
Sie schwieg einige Sekunden, bevor sie auflegte.
Die Luft bewegte sich stärker. Das bleiche Licht am Horizont wurde jetzt von einer Wolkenbank verdeckt, die in ihrem regengesättigten Grau dünne, rosafarbene Striche aufwies.
Er zahlte, steckte die beiden Postkarten ein und lief am Hotel und den im Wind zitternden Hortensienbüschen vorbei zum Parkplatz hinauf, stieg in sein Wohnmobil und fuhr an der Küste entlang nach Cany, wo er die Karten in einen Postkasten warf, von dort nach Sassetot-le-Mauconduit, kaufte in der Dorfmitte bei einer Dame, die eine kleine Epiçerie betrieb, kurz vor Ladenschluss etwas Schinken, Butter und Käse, las auf dem Gedenkstein neben der Kirche, dass die deutsche Wehrmacht hier Bürger des Dorfes zusammengetrieben und als Rache für einen Sabotageakt erschossen hatte, fuhr weiter, in das Tal nach Les Petites Dalles, ein ehemaliges Fischerdorf zwischen den Kreidefelsen, die in jener Gegend Dalles genannt werden. Er wollte sehen, was Delacroix und Monet hier gemalt hatten.
Swoboda hatte vor, sich aus der Geschichte zu verabschieden und sie durch Kunst zu ersetzen.
Als er auf dem Parkplatz in der Bucht anhielt, sah er die ersten Tropfen auf der Windschutzscheibe.
Er stieg aus, der Wind fing sich die Tür und riss sie auf. Swoboda nahm von der Fahrerbank seinen Anorak, streifte mühsam den flatternden Fetzen über und zog den Reißverschluss zu. Mit den Böen schlug die Kapuze an seinen Hinterkopf. Er streifte sie über und zurrte sie fest.
Über dem Meer lag ein schwarzer Streifen, unter dem sich helle Schaumkämme auf dem Malachitgrün abzeichneten. Noch war die Dünung am Strand sanft und das Scharren der Kiesel leise. Der Himmel zerfaserte, zwischen schiefergrauen Federn hielten sich Flecken von Hellblau, wie mit Buntstift dazwischengemalt, und an den Rändern der zusammenschießenden Wolken über dem Meer war jetzt, dünn wie ein Faden, das Feuer zu sehen, das hinter der Horizontbarriere des Sturms von der Sonne ausgesandt wurde.
Mit offenem Mund stand Swoboda, die Steilküste im Rücken, auf den runden Steinen des Strands und sah zu, wie sich Himmel und Meer ihre opernhaften Gebärden zuspielten. Der dunkle Balken über dem fernen Meeresbogen wuchs in die Höhe, verbreitete ein violettes Grau über den ganzen Himmel und schob sich über die Kreidefelsen. Der Wind zwang den Regen in die Horizontale, trieb ihn über die Wellenkämme, ließ ihn anprasseln gegen den Schaum der Dünung.
Das Geräusch aus Sturm, rollender Brandung, scharrenden Kieseln, pladdernden Tropfen war ganz nach Swobodas Geschmack, ließ ihn die Freiheit fühlen, die er gewonnen hatte; er legte den Kopf in den Nacken, nahm den Regen mit seinem Gesicht entgegen und spürte unter seinen Füßen den wummernden Aufschlag der Wogen.
Nachbemerkung
DIE HISTORISCHEN GRUNDLAGEN für das Schicksal des Tirailleur Senegalais , der im Buch Yoro Mboge heißt, sind erst seit etwa zehn Jahren als Teil der deutschen Zeitgeschichtsforschung für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. 2004 erschien das Standardwerk Zwischen Charleston und Stechschritt – Schwarze im Nationalsozialismus , das im Auftrag des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln von Peter Martin und Christine Alonzo herausgegeben wurde. Aus dem selben Jahr stammt die Untersuchung von Gerdtrúd Czinski an der Bauhaus-Universität Weimar: Repräsentation der Schwarzen im NS-Spielfilm 1934–1944 im Kontext der Geschichte . Ebenso zu Dank verpflichtet bin ich Raffael Scheck, dessen Buch Hitler’s African Victims (Cambridge 2006) auf Deutsch unter dem Titel Hitlers Afrikanische Opfer – Die Massaker der Wehrmacht an schwarzen französischen Soldaten 2009 in Berlin erschienen ist. Hilfreich waren auch die Studien von Julia Opkara-Hofmann über Schwarze Häftlinge und Kriegsgefangene in deutschen Konzentrationslagern und über Afrikanische Zuwanderung nach Deutschland zwischen 1884 und 1945 von Katharina Oguntoye.
Über die Gründe für das beschämende jahrzehntelange Desinteresse der deutschen Zeitgeschichtsforschung an dem Thema darf spekuliert werden. Gegen den Trend hat immerhin ein Historiker sich bereits 1979 mit dem Schicksal der Rheinlandkinder befasst: Reiner Pommerin.
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