Mein Jahr als Mörder
macht, was habt ihr von der Freiheit, wenn ihr sie nicht nutzt, was habt ihr vom Recht, wenn ihr es würgt? Berlin ist so krank unter seinem Panzer des Mir kann keenerl, ist blind mit seinem Berlin ist helle, eingemauert in die Parole Berlin bleibt Berlin, töricht gespalten, Berlin im Dunst, im Dunst der Vergangenheiten, im Nebel, im Nifelheim, im Nirwana, wo die freie Presse keine freie Presse ist, im Kartoffelland, wo der Kommunismus, der Sex ohne Trauschein und das Verbot, die Kartoffeln mit dem Messer zu schneiden, die einzigen Erregungen liefern und Sepp Maiers Paraden, Beckenbauers Flanken und Müllers Tore direkt ins irdische Paradies führen, und damit alles friedlich bleibt unter den Dächern, unter allen Antennen, singt Heintje sein Mama, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen, aber es wird euch nichts nützen, ihr werdet weinen, wir Jungen werden einiges anders machen, werden alles anders machen, und ihr werdet, ihr sollt über eure Jungen weinen, und es wird nicht anders gehen ...
In diesem Stil, laut oder halblaut, mit Pausen, verfluchte ich die Juristenbande, verfluchte die Stadt, das ganze Land gleich mit, und zum Glück hörte niemand, wie ich mich lächerlich machte.
Ein Alibi von Axel Springer
Meine Wut, das verstehe ich heute, und der unbeholfen pauschale Hass waren Ausdruck wachsender Skrupel. Mit der rohen Gewalt ihres Freispruchs für R. hatten die Richter des Schwurgerichts mich zum Mörder und Rächer bestimmt. Aus reiner Willkür, denn sie hätten auch ganz anders entscheiden können, wie ich inzwischen wusste. Im Jahr 1956 hatte Anneliese Groscurth, um ihre Sache der Entschädigung voranzutreiben, die Aufhebung des Urteils des Volksgerichtshofs gegen Georg beantragt. Und die 11. Strafkammer des Landgerichts stellte kurz und bündig fest: Daß die Verurteilung allein aus politischen Gründen erfolgt ist, ergibt sich ohne weiteres aus der Art des Delikts. So wurde das Todesurteil aufgehoben. Mein einziger Sieg, sagte sie.
Es wäre so einfach gewesen: Freisler und R. haben ihre Urteile aus politischen Gründen gefällt, ohne weiteres. Warum fielen die Richter des Schwurgerichts im Dezember 1968 meilenweit hinter die Richter des Landgerichts von 1956 zurück? Versteh einer die Juristen.
Aber warum zwangen sie mich zum Mord, verurteilten mich zu meiner Tat? Ich war nicht sehr begabt für Hass, und deshalb war ich so wütend auf diese Leute, die mir den Hass aufzwangen. Die mich, noch verrückter, zum Märtyrer beförderten, eine Rolle, der ich mit zunehmendem Unbehagen entgegensah. Wenn die Richter wenigstens ihren Freispruch juristisch solide begründet hätten und nicht mit der Rechtfertigung der alten Verbrecher, hätten sie mich vielleicht von meiner Tat abbringen können. Es wäre die letzte Chance gewesen. Nun konnte ich nicht mehr zurück, und das muss ich ihnen, ohne es zu ahnen, besonders übel genommen haben.
Mai, Juni, Juli, in diesen Wochen schrieb ich nieder, was ich im Winter in Erfahrung gebracht hatte. Meinem Wunsch, das Buch im späten Herbst herauszubringen, folgte der Verleger nicht. Er wollte das Manuskript erst im November haben und im März publizieren. Der Mord zum Buch, das Buch zum Mord so lange aufschieben? Ich hatte alles so schnell wie möglich erledigen wollen. Die Verzögerung ärgerte mich, sie schwächte die Entschlusskraft.
Im Frühsommer nahmen die Träume zu, in denen ich Verbündete suchte. In ausladenden Phantasien strengte ich mich an, von irgendwelchen Autoritäten den Segen für meine Tat einzuholen. Ich erinnere mich an lange Gespräche mit Außenminister Brandt, mit dem Theologen Gollwitzer, mit dem Verleger Springer. Natürlich lenkte ich die Träume so, dass die Herren von meiner Sache überzeugt wurden und mir Recht gaben. Am freundlichsten klopfte mir, als Freund Israels, Axel Springer auf die Schulter, und ich erwachte mit dem glückseligen Gefühl: Bild wird mich verteidigen.
In dieser wirren Phase kam ich auf die Idee gelegentlicher Arztbesuche - aus taktischen Gründen. Die Kalkulation war einfach: Wenn ich dem Gericht beweisen kann, vor der Tat bei Medizinern Hilfe gesucht zu haben, den Mordbefehl des Nachrichtensprechers abzuschütteln, dann gibt das Pluspunkte, mildernde Umstände.
Aber zu welchem Arzt? Nicht zu dem, der mich kennt und auf seiner Karteikarte als durchgeknallt taxieren müsste. Auch nicht zu den Fachleuten in der Psychiatrie, die würden mich nicht so schnell aus ihren Fängen lassen, mit Medikamenten voll stopfen
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