Mein Jahr als Mörder
der Zigarette? Warum bekam der eine nach dem Todesurteil im Zuchthaus wissenschaftliche Aufträge, warum der andere nicht? Es setzten sich, wie in Deine Gesundheit zu lesen war, auch für Groscurth viele Wissenschaftler ein, warum gelang ihnen die Rettung nicht, die ihnen bei Havemann gelang? Hatte er mehr getan oder mehr gestanden? Wurde er gefoltert? Wer waren die anderen Mitglieder? Was ist mit denen passiert? Was stand in den Flugblättern der EU? Wo waren diese Blätter? Warum flog die Gruppe auf? Verrat, Dummheit, Zufall?
So geriet ich in den Strudel der Fragen, der mit dem Blick auf die Heßfotos immer schneller wirbelte. Warum schrieb der DDR-Arzt kein Wort über Rudolf Heß, obwohl er mit Frau Groscurth gesprochen und die Bilder gesehen hat? War das so anstößig im Osten, konnten sie diese Wahrheit nicht vertragen? Und Heß selber, wie oft kam er? In welchen Jahren?
Warum gerade zu Dr. Groscurth? Warum nicht zu einem der anderen tausend Fachärzte in Berlin? Welche Krankheiten ließ er kurieren? Wie sprach Groscurth mit ihm?
Hundert Fragen, in die ich mich in der Nacht verstrickte. Vielleicht hatte Frau Groscurth, vermute ich heute, mir die Fotos geliehen, um zu testen, wie ich mit diesen Widersprüchen umginge: Heß der Feind vorm Stethoskop, Havemann der Freund an seiner Seite. Sie ahnte nicht, welche Sprengladung sie mir mitgegeben hatte. R. H. und R. H., die unbegreifliche, unendliche Spanne zwischen Heß und Havemann. Die Fotos und der dürftige Artikel lösten ein Feuerwerk von Fragen aus, die sich nicht bremsen, nicht kleinreden, nicht wegstecken ließen. Sie explodierten, eine knallbunte Kettenreaktion, hundert leuchtende Fragezeichen regneten mir durch den Kopf, trieben mich in die Enge, bis ich die Rettung sah: schreiben.
Schreiben, ganz einfach.
Fragen und Antworten suchen, Antworten verwerfen und weiter fragen, forschen, prüfen, bohren, dafür gab es nur einen Weg: schreiben. Wer Bescheid weiß, wer handliche Antworten hat, der kann sich auf die Straße oder vor ein Mikrofon stellen und Parolen schreien, das ist in Ordnung, aber wer nichts weiß oder fast nichts und so gebaut ist wie ich, der hat nur eine Wahl: schreiben. Wenn die Fragen schon so weit vorgeschossen, wenn die Gegensätze schwer auszuhalten sind, gibt es nur ein Mittel: an der Schreibmaschine weiterfragen, die Gegensätze zuspitzen.
Was ich in naiver Laune oder um Eindruck zu schinden bei Frau Groscurth gesagt hatte, war instinktiv richtig gewesen: Ich würde gern was schreiben über die Gruppe. Wie eine Beleidigung lag mir der Satz in den Ohren: Da musst du erst noch einen Sack Salz essen, junger Mann! Im Rausch der neuen Vorsätze, unterstützt von zwei Flaschen Bier, provoz-erte der Sack Salz am meisten: Jetzt erst recht, zeig ihr, was du kannst!
Das Beste an den Schreibplänen war, sie standen den Mordplänen nicht im Weg. Im Gegenteil, sie ergänzten sich. Ich war überwältigt von einer Lösung, von einer Doppel-trategie, um es im damaligen Jargon zu sagen: das Buch über die Groscurth-Havemann-Gruppe - und den Mord an dem Richter vorbereiten, der sie köpfen ließ. Beides müsste gleich-eitig publik werden, der Mord hätte dann zu geschehen, wenn das Buch frisch auf dem Markt ist. Das Buch liefert das Motiv für den Mord, der Mord ist die Konsequenz aus dem Buch. Wort und Tat wären eins, endlich einmal. Der Widerspruch, der den Wortmenschen so viel zu schaffen machte, wäre aufgehoben. Wenn ein junger Autor gegen den Mörder R. loszieht, könnte das ein Beispiel für die ganze studentische Bewegung werden, die Literatur aufgewertet, das Wir-Gefühl belebt, die auseinander strebenden Kräfte vereint werden, das waren die kühnsten Illusionen. Für das Buch wird es Beifall geben, für die Tat ebenso, die Feuilletons werden sich über das Thema Wort und Tat ereifern, alle Anstrengungen werden reichlich belohnt werden.
Die hochfahrenden Pläne verwelkten schnell im Licht des nächsten Morgens. Im Fieber der phantasierten Feldzüge gegen die Nazis und im Wahn, als Held der Vergeltung aufzusteigen, hatte ich vergessen, dass ich kein freier Mann war. Ich hatte, so banal das klingt, zu studieren, 12. Semester. Das Referat über Rousseaus Gesellschaftsvertrag musste abge-eben werden, für andere Seminare, längst vergessen, war viel zu lesen, eine Dissertation sollte fertig werden, dafür sparte sich meine Mutter jeden Monat 250 Mark von der Witwenrente ab.
Wie sollte ich da nebenbei einen perfekt inszenierten Mord
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