Mein Jahr als Mörder
regte mich auf. Mit den Nazirichtern und ihren Opfern hatte der oberste Chinese nichts, gar nichts zu tun. Er wischte sie nur weg mit seinem autoritären Blick, er verhöhnte sie mit seinem Lächeln, er half beim Verdrängen. Die uniformen Bilder des Vorsitzenden aus Peking schlugen, so empfand ich das, die Widerstandskämpfer noch einmal tot.
Wenigstens einem der Mao-Jünger die Mao-Monstranz zu entreißen, war ich zu feige, ich dachte nur: Warum zeigen wir keine Bilder der Männer und Frauen, die R. mit seinen Urteilen hat hängen, erschießen oder unters Fallbeil befehlen lassen? Zweihundertdreißig Tote, selbst wenn es schwer ist, werde ich später zu Catherine gesagt haben, innerhalb einer Woche Fotos von denen aufzutreiben, ein, zwei Dutzend hätte man doch finden können, ich hab selber welche zu Hause, Groscurth und Havemann.
Nicht der Satz von Frau Klarsfeld war es, der mich vom Pfad der Tugend, von Rousseau und den Arbeitspflichten abgebracht und aufs Neue zu meiner Tat aufgewiegelt hat, sondern die Wut auf die Mao-Leute. Ein Redner der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins stand am Mikrofon und wurde mit Buhrufen und Pfiffen empfangen. Als er sagte, er sei von R. zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden, war es einen Moment still, dann gab es höhnischen Beifall von der Mao-Fraktion. Er versuchte seine gestanzten Sätze abzulesen und musste gegen Pfiffe und Sprechchöre kämpfen: «Mao Tse-tung!» oder «Dubcek!».
Ich traf einen Bekannten aus dem Rousseau-Seminar und sagte:
- Man soll ihn reden lassen!
- Die Revisionisten haben kein Recht, hier aufzutreten, meinte er lässig.
Ein kluger Mensch in Seminar-Debatten, rhetorisch und intellektuell mir weit überlegen, und nun behauptete er, es sei ein Irrtum, von der bürgerlich-faschistischen Justiz etwas anderes zu erwarten als bürgerlich-faschistische Urteile. Wir hätten dem Volk zu dienen, sagte er, dem solche Urteile herzlich egal seien, weil es wisse, dass die bürgerlich-faschistische Justiz keine andere Aufgabe habe, als den Imperialismus zu schützen.
- Es geht um die Nazis, sagte ich.
- Du bist ja auch so ein heimlicher Revisionist. Prozesse gegen diese Verbrecher können nur von den Massen des Volkes geführt werden, nur dann wird es solche Freisprüche nicht mehr geben.
Gleich sind wir wieder beim Volksgerichtshof, dachte ich und wandte mich ab. Da würgte etwas in mir, rieb auf der Seele, ich spürte es zuerst im Hals wie ein Kratzen, und das lag nicht am Dezembersmog oder am grauschweren, trüben Nachmittagslicht. Ich lief, wahrscheinlich allein, zur U-Bahn und wusste genau: Da ist keine Luft, kein Platz, kein Wort für dich zwischen den alten und den neuen Parteien.
Was mich abstieß, war mehr als das übliche Wettpinkeln der Revolutionäre, wie Catherine das nannte, wenn die Wortführer des Aufruhrs, um die Spitzenplätze der Avantgarde rivalisierend, sich gegenseitig mit immer radikaleren Formulierungen und Ideen überboten. Ohne Scheu, den Weg, den sie gestern noch als einzigen zum revolutionären Heil gepriesen hatten, heute als reformistisch und revisionistisch zu verteufeln. Keinen Monat lang, so schien es, konnten sie bei einer Meinung bleiben, jede neue oder angeblich neue Lage und jede Theorie, die sie studierten, führte zu neuen Einschätzungen und Strategien - die beste Entschuldigung, kein Projekt mehr richtig abzuschließen. Schneller, weiter, höher, und das möglichst laut, wer dies Spiel beherrschte, gab auf den Podien den Ton an. Noch schlimmer die frisch bekehrten Dogmatiker aus Maos Geist und die unbelehrbaren Dogmatiker aus Moskaus Geist. Der Freispruch des Nazirichters diente ihnen nur als Vorwand für Propaganda.
Die Studentenbewegung war am Ende, nie traf mich diese Einsicht deutlicher als in jenen Minuten. Mit der U-Bahn fuhr ich zum Wittenbergplatz und stieg hinauf in die Dämmerung des Dezembernachmittags, da spürte ich es wie einen Schlag auf den Kopf, mitten im Menschengedränge der Einkaufsstraßen. Da waren sie, die gesuchten Massen, am zweitletzten Samstag vor Heiligabend, schwer beladen, mit herrischer Hektik von Geschäft zu Geschäft, zu Parkplätzen und Haltestellen schiebend. Bald sah ich keine Gesichter mehr, nur volle Taschen und Tüten, grinsende Weihnachtsmänner vor Kaufhäusern, Tannenzweige in den Schaufenstern der Apotheken, rote Baumkugeln und Lamettawände in Drogerien, an Goldbändern baumelnde Goldengel zwischen ausgestellten Mänteln, Röcken, Blusen.
An einer Ecke spielte
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