Mein Jahr als Mörder
ein junger Mann Saxophon, auf seinem Pappschild war zu lesen: Musiker aus Prag bittet um Spende. Ob er wirklich vor den Russen aus Prag geflohen war oder nur das fernsehfrische Mitleid für die unterdrückten Tschechen ausnutzte, war mir egal, ich hörte in gemessenem Abstand zu. Er improvisierte mit bekannten Liedern, ich erinnere mich an die Takte aus All you need is love, er tippte die Melodien nur an und weckte damit die Lust am Weiterhören, die er nicht befriedigte, sondern umspielte. Unter den Tönen des Saxophons brach meine schleichende Traurigkeit auf. Als er bei Strangers in the Night angelangt war mit trockenen, zarten Phrasen, stiegen mir Tränen in die Augen. Gleichzeitig waren Sirenen zu hören, heulten näher, ließen das Saxophon verkümmern, Polizeiautos rasten in Richtung KaDeWe - das übliche Nachspiel, eine Rangelei oder Prügelei mit den Mao-Leuten, wie ich später in den Nachrichten hörte. Ich lief davon, um nicht heulen zu müssen, und wagte nicht, über meine Traurigkeit nachzudenken. Noch wochenlang habe ich mir vorgeworfen, dem Saxophonisten nicht wenigstens ein Markstück hingeworfen, ja die Tschechen verraten zu haben.
Die Maoisten, die Massen, der Flüchtling aus Prag, wie passte das zusammen? Warum konzentrierten unsere Strategen sich nicht auf wenige Ziele, zum Beispiel auf Springer, auf Prag, auf Vietnam? Warum die Inflation der revolutionären Phrasen, Begriffe und Utopien? Die Gruppen erreichten die Massen nicht, warum mussten sie sich immer weiter entfernen mit Mao, Lenin, Guevara, Trotzki? Es lag in der Luft, auf jeder Versammlung, auf jeder Demonstration war zu spüren und in den neuen Schriften zu lesen, dass jetzt die spielerischen, provokanten, antiautoriären Energien verschwinden und die nahe liegenden Ziele als reformistisch verworfen werden sollten. Man wollte jeden, man wollte auch mich rekrutieren für eine Partei. Überall Rekruten der einen oder anderen, der dritten, vierten, fünften oder sechsten Partei, die sich gegenseitig zerfleischten. Und glauben sollte ich wieder an den einen oder anderen Gott, an irgendeinen kleinen oder großen Vorsitzenden, an einen ganz bestimmten Weg zum politischen Seelenheil. Ohne mich, dachte ich, die Töne von Strangers in the Night im Ohr, dann wird man mich auf keiner Demonstration mehr sehen.
So kehrte ich zu den drei magischen Fotos und der Gros-curth-Geschichte zurück, entschlossen, wenigstens eins oder zwei oder vier der Gesichter der von R. ermordeten Männer sichtbar werden zu lassen.
Die stärkste Kanone
Das zweite Gespräch mit Frau Groscurth verlief besser. Ihre zögerlichen Antworten und knappen Berichte über den Patienten Rudolf Heß versuchte ich am nächsten Tag als Kapitel für mein Buch zu skizzieren. Einige Wochen lang habe ich das durchgehalten, nach jeder unserer Abendsitzungen oder sonntäglichen Kaffeestunden eine Art Protokoll zu schreiben. Fragmente, Notizen, ungelenke Entwürfe, die in der schriftlichen Fassung dieses Geständnisses nicht fehlen dürfen:
Auf dem ersten Schwarzweißbild eine schwarze Limousine im Schnee. Drei weiß gekleidete Männer begrüßen zwei dunkel gekleidete Männer. Alle uniformiert, die einen mit Arztkittel, die ändern mit Parteimantel. Die dunklen Herren tragen Uniformmützen, die weißen sind ohne Kopfbedeckung. Alle Augen sind auf den Mann in der Mitte gerichtet: Rudolf Heß, Stellvertreter des Führers. Das Foto verrät nicht, wer hier, zumindest für eine halbe Stunde, der Stärkere ist: der junge Arzt am rechten Bildrand, der Oberarzt Georg Groscurth.
Der Arzt hat den hohen Gast fest im Blick. Auf der Inneren Station ist Groscurth bekannt dafür, seine Patienten zwei, drei Minuten zu mustern, lässig an den Türpfosten gelehnt, die Hände in den Kitteltaschen, und die Diagnose vorherzusagen, immer die richtige, wie die Krankenschwestern behaupten: «Er kann mehr als die alten Römer, er kann sogar aus den Eingeweiden, die er nicht sieht, die Zukunft lesen.» Seit 1936 behandelt er die schweren Magen- und Darmleiden von Gauleiter Alfred Heß, der mit dem Satz «Sauerbruch hat mich aufgegeben, Groscurth mein Leben gerettet» seinem Bruder und anderen Nazis den Dr. Groscurth empfohlen hat. Alle paar Wochen erscheint der Stellvertreter des Führers bei dem jungen Oberarzt in Moabit zur Sprechstunde, welche Ehre für das Krankenhaus.
Zweites Foto, vor der Tür des Sprechzimmers: Heß hat Mütze und Handschuhe in der Linken, erwidert mit der erhobenen abgewinkelten Hand
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