Mein Jahr als Mörder
phantasietüchtig genug, um mich nicht gleich für verrückt zu erklären. Ich stieg die Treppen im Hinterhaus in das dritte Stockwerk hinauf, drehte an der Klingel, wartete, klopfte laut. Wie immer, wenn ich Hannes suchte, war er nicht zu Hause.
Unten, im schwach beleuchteten Hinterhof Bretterstapel, Schutthaufen, Fahrräder, verbeulte, mit brauner Asche bestäubte Mülltonnen und das vertraute Schild: Spielen verboten! Eltern haften für ihre Kinder! Ich lachte auf, vielleicht über den Witz des Haftens oder als wollte ich mir das Spielen nicht verbieten lassen - und wurde mitten in diesem Kreuzberger Rattenloch von der Erkenntnis überrascht: Du kannst nicht anders, es hat keinen Sinn, sich zu wehren, du musst den Auftrag annehmen. Das war kein ernster oder feierlicher Vorsatz, eher ein spielerischer Einfall. Was für eine tröstliche Ironie! Seit Samuel Beckett wusste man, dass die Weisheit aus den Mülltonnen kommt.
Zum ersten Mal in diesen vierundzwanzig Stunden fühlte ich mich völlig entspannt und erhoben, als sei in dem finsteren Hinterhof eine buddhistische Weisheit an mir erprobt worden: Sag ja, sag einfach ja zu allem, was deine innere Stimme sagt. Und zur Not schiebst du alle Schuld auf den Rundfunk im amerikanischen Sektor. Oder auf Beckett!
Während ich, von dieser Klarheit ergriffen, nach Hause fuhr und an einer Ampel in eine Metzgerei starrte, sah ich, so primitiv arbeitet das Hirn, die Fleischerhaken im Gefängnis Plötzensee und sah den Richter R. in der verdächtigen Gemütlichkeit eines Wohnzimmers auf dem Sofa vor einer Champagnerflasche. Sah die nach vorn gefallenen Köpfe der Gehenkten und sah R. mit einer Frau und drei, vier Herren vor den Sektkelchen. Hörte Freislers Stimme, wie ich sie aus alten Filmen kannte, und hörte den Korken knallen, sah den Champagner schäumen und perlen, Pommery, versteht sich, sah die Gläser von faltigen Händen gehalten, hörte ein Räuspern und den Trinkspruch: Auf deinen Freispruch, auf die Freiheit!
Wie lernt man eine erregte Phantasie zu bremsen, die nicht gebremst sein will? Die nicht gehindert werden will an der einfachen Übung, die Bilder zusammenzufügen, die zusammengehören? Was ist das für einer, der Herr Kammer gerichtsrat a. D.? Was findest du in den Büchern über die Nazijustiz?
So kam es, dass ich Catherine zum ersten Mal wegen R. belog und verärgerte. Ich müsse am Referat arbeiten, ich hätte keine Zeit fürs Kino. Die Artisten in der Zirkuskuppel können warten. Oder war es Die Reifeprüfung mit Dustin Hoffman? Nicht alles serviert die Erinnerung.
Kopf abgehackt
Es wird Zeit, die Geschichte mit Axel zu erzählen. Da steigen wir weit zurück, tief in die fünfziger Jahre, in die vierziger sogar, da müssen wir raus aus Berlin, schalten um ins hessische Mittelgebirge, suchen zwischen Bad Hersfeld und Fulda den Ort Wehrda, fahren auf Landstraßen von Norden über Rhina oder von Süden über Rothenkirchen, von Osten über Unterstoppel, von Westen über Wetzlos oder Langenschwarz heran und steuern in die Mitte der Talmulde, auf die Kirche mit dem dicken Zwiebelturm zu, Fachwerkhäuser, Scheunen, zwei Schlösser, dahinter ansteigend Wiesen und Felder vor bewaldeten Bergkuppen, die das Dorf umschließen.
Dies abgelegene Nest spielt als Ort der Handlung der Geschichten, die ich zu enthüllen habe, eine entscheidende Rolle. Hier keimte das Motiv meiner Tat.
Wir blenden uns ein in das Gespräch zwischen dem Stadtkind Axel, das einst in Wehrda lebte, und dem Dorfkind, das ich war. Sie sind zwölf oder dreizehn Jahre alt, in heftiger Freundschaft verbunden. Axel ist wie immer in den Sommerferien mit seinem Bruder Rolf aus Berlin gekommen, zur Tante auf den Bauernhof. Stadtkind und Dorfkind laufen an einem Sonntagnachmittag auf den Feldwegen über dem Dorf entlang, wie sie es oft tun, wenn sie keine Lust mehr auf die Spiele mit den Brüdern oder anderen Jungens haben. Die Sonne steht hoch, die Kornfelder im leichten Wind, die Ernte hat noch nicht begonnen, und irgendwann beschwert sich das Dorfkind über seinen Vater, der jeden Tag außer sonntags unerbittlich Lateinvokabeln abfragt, bis das Stadtkind sagt: Sei froh, dass du einen hast. Das Dorfkind erschrickt, denn es weiß längst, dass der Vater des Freundes im Krieg gestorben ist, aber irgendwie anders als die anderen Väter.
Spatzen fliegen vom Weg auf, die Wellen der Ähren und Halme fließen mit dem Wind davon, das Rot der Mohnblumen ist nicht blutrot, es leuchtet viel schöner als
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