Mein Jahr als Mörder
Contrat social von Rousseau.
Nachdem ich einige Absätze getippt hatte, gierte ich nach neuer Kritik und Schelte des Urteils und stellte gegen Mittag das Radio an- und wurde sogleich für diesen Leichtsinn bestraft: Da war sie wieder, die Stimme, die mir keine Ruhe ließ. Was tust du mit solch einer Stimme im Kopf? Weghören, ablenken, konzentrieren. Aber wenn das nicht hilft? Ich wurde unruhig. Warum hatte die Stimme aus dem RIAS eine solche Macht über mich? Warum sollte ich mich dieser Macht unterwerfen, warum konnte ich den eingebildeten Befehl nicht abschütteln? Ausgerechnet dieser Sender, warum hatte gerade der amerikanische Sender die Autorität, mich zu einer so wahnwitzigen Tat zu drängen?
Ich war anfällig für Stimmen, für suggestive Stimmen. In Catherine hatte ich mich wegen ihrer Stimme verliebt. Dichter, die mit lahmer Stimme holprig vorlasen, konnten keine guten Dichter sein, da war ich sicher. In den Hörsälen wollte ich keinen Professor ernst nehmen, so intelligent er parlieren mochte, wenn er sein Wissen krächzend ausbreitete. Stimmen sind es, die den Ausschlag geben.
Vielleicht könnten andere Sprecher als Gegenmittel wirken? Also ließ ich sie während der Mittagszeit alle in mein Zimmer, einen nach dem ändern, zwischen zwölf und halb zwei, die Herren der Modulation im Bass oder Bariton auf der UKW-Skala, die festen Stimmen der beiden Westberliner Sender, die werbenden Stimmen der Ostberliner Stationen, die englischen, amerikanischen und französischen Sprecher. Sie lasen ihre Texte ab, Vokabular und Tonfall verrieten sofort, von welcher Seite der Mauer wir zur einzig wahren Weitsicht bekehrt werden sollten, und am Ende setzte sich doch wieder der Mann vom RIAS durch, leise, mit peinlicher Deutlichkeit: Einer wird R. umbringen, kein anderer als du!
R. sabotierte mein Referat, die Stimme störte, sie attackierte mich. Was also tun? Am frühen Nachmittag fiel mir nichts Besseres ein, als ins Auto zu steigen und durch die Stadt zu fahren, ohne Ziel, nur mit der Absicht, die Stimme aus dem Kopf zu scheuchen.
Niemand möchte gern verrückt sein, schon gar nicht einer, der dem Traum der Vernunft anhängt. In Berlin streunten genug Halbirre herum, in jeder Eckkneipe konnte man Leute treffen, die von ihren Stimmen im Kopf berichteten, die einen stolz, die nächsten im Beschwerdeton. Manche fühlten sich von Geheimdiensten ferngesteuert, andere sahen sich als Werkzeug der Kommunisten oder als Opfer der im Untergrund lauernden Nazis. Man spürte schnell, wer sich nur wichtig machte oder Ausreden fürs Saufen brauchte, der Wahn mit den Stimmen konnte ja sehr nützlich sein: Man machte sich interessant. Zu diesem Verein wollte ich auf keinen Fall gehören.
Hinter dem Lenkrad wurde ich ruhiger. Die Einkaufsstraßen mit den Leuchtzeichen des Weihnachtshandels meidend, steuerte ich das Auto in die verödeten Trümmer ecken am Tiergarten. Hier war die Richtung egal, man konnte sich nicht verirren: Überall war Osten, irgendwann kam die Mauer, da ging es nur zurück oder an der unbemal-ten Betonwand entlang. So landete ich hinter der Philharmonie, stieg beim Hotel Esplanade aus und inspizierte an einem Kiosk die neusten Maueransichtskarten und den Freiheitsglockenkitsch. Auf das Podest mit dem Blick auf das Brachfeld des Potsdamer Platzes verzichtete ich, überall lag der Ruf in der Luft: Du entgehst ihm nicht, deinem R., hier nicht! R. hat geholfen, den Krieg zu verlängern! Hat die Leute gehenkt, die den Krieg und die Bomben aufhalten wollten! Du hast keine Wahl!
An jeder Straßenecke das Gleiche, die Stimme im Kopf wurde lauter und frecher, sie lenkte den Blick, sie behandelte mich wie einen Idioten: Die Nazis sind an allem schuld, an den Ruinen, an den verwahrlosten Fassaden, an jeder Hässlichkeit! Irgendwann brüllte ich zurück: Das musst du mir nicht tausendmal sagen! Ich weiß genug! Da ließ die Stimme nach, als wolle sie mich schonen. Ich war besänftigt, ließ mich treiben im dritten Gang auf den breiteren Straßen durch Schöneberg, Neukölln und Kreuzberg und freute mich, kein Autoradio zu haben.
Es begann zu dämmern, ich hielt in der Naunynstraße, wo mein Freund Hannes wohnte, und dachte ihn zu fragen, was ich mit meiner inneren Stimme anfangen sollte. Von R. würde ich nichts sagen, vom Mordauftrag noch weniger, vielleicht kannte er ähnliche Wahnideen. Der Dichter Hannes war auf See gefahren und glaubte möglicherweise an den Klabautermann, jedenfalls war er empfindsam und
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