Mein Koerper und ich - Freund oder Feind
sich leisten, mehr und mehr der geschäftigen Welt abhandenzukommen und einzutauchen in das stetige Kommen und Gehen der Jahreszeiten, des Tages und der Nächte, der Wellen am Meer, und zuschauen, wie die Pflanzen vor dem Fenster auf eine ganz natürliche und selbstverständliche Weise verwelken und vergehen. Und sich freuen an den Kindern, den Tieren, der Schönheit der jungen Menschen – denn, was diese nicht wissen und sich überhaupt nicht vorstellen können: Auch die ganz Alten waren einmal jung! Vor langer Zeit.
2. Gegensätze und Balance
Die Welt ist voller Polaritäten – das ist allenthalben sichtbar: oben und unten, Berg und Tal, hinten und vorne, Vergangenheit und Zukunft, hell und dunkel, Tag und Nacht – und die Übergänge dazwischen. So erleben wir die sichtbare Welt und den pendelnden Rhythmus von einem zum anderen. Da wir in der Zeit leben, befinden wir uns im Hier und Jetzt immer an einem bestimmten Punkt: hier oder dort. Und doch ist das nicht ganz richtig: Die Welt ist ihrem Wesen nach gegensätzlich, das eine schließt das andere ein, ohne das eine gibt es das andere nicht und umgekehrt: Man könnte nicht von einem Berg sprechen, wenn da kein Tal wäre. Oder von einer Mutter, einem Vater, wäre da kein Kind. Nicht von einer Außenwelt ohne Innenwelt –sie gehören zusammen. Deshalb kann man auch nicht zwischen den Gegensätzen wählen und sich für einen Pol entscheiden: kein entweder – oder . Stattdessen ein sowohl – als auch , was für uns westliche Menschen, die wir mit der aristotelischen Logik groß geworden sind, nicht leicht zu schlucken ist. Bei uns heißt es: Entscheide dich, du musst doch wissen, was du willst. Die gesamte Natur und unser eigenes Naturell belehren uns, dass das nicht geht – zumindest nicht auf Dauer. Auch die Wahrheit trägt auf ihrer Rückseite den Zweifel mit sich herum.
So ist es auch mit dem Unwillkürlichen und dem Willkürlichen, dem Es und dem Ich, dem Fühl-Wesen und dem Denk-Wesen im Menschen, um mit Luc Ciompi (1982) zu sprechen. Diese Doppelnatur des Menschen will zur Geltung kommen.
Was passiert, wenn wir in eine Richtung vereinseitigen, ist auf den vorhergehenden Seiten beschrieben worden. Wir werden krank, oder zumindest geht es uns schlecht.
Da wir in Zeit und Raum existieren, drücken sich auch die Gegensätze zeitlich und räumlich aus, in wechselnden zeitlichen und räumlichen Rhythmen. Und sie verschieben sich im Laufe der Zeit, d. h. unserer Lebenszeit, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben.
Und so zog sich bis hierher der immer gleiche Gedanke wie ein roter Faden durch das Buch: Alles Lebendige hat seine Eigenschwingung, einen Rhythmus, ein Auf und Ab, Hin und Her, Kommen und Gehen – das jedoch in einer verträglichen Balance gehalten werden muss, und zwar von den lebendigen Systemfunktionen selbst – auch gegen widrige Einflüsse von außen. Wir haben gesehen, dass deutliche oder lang andauernde Imbalancen Funktionssysteme aus dem Tritt, aus der Ordnung bringen –woraus psychosomatische Symptome und Erkrankungen entstehen können.
Schon die klassische Medizin spricht von Homöostase, also einem Gleichgewicht als Grundlage für Gesundheit. Daraus wurde oft geschlossen, dass es sich da um einen anzustrebenden mittleren, ausgewogenen Zustand handeln sollte. So etwas wie geordnete Gleichförmigkeit.
Die würde aber so manchem Menschen als Lebenskonzept überhaupt nicht zusagen. Besonders wenn man jung ist, denkt man, das sei eher etwas für alte Leute – zu Recht! Das Leben in Extremen: hoch hinaus, z.B. auf die höchsten Gipfel der Berge und der Extase, und steil hinab z.B. beim Bungie-Springen ist für die Jungen höchst reizvoll.
Manche Menschen, die psychisch unter dem Druck starker Gegensätze leben, z.B. mit einer bipolaren Störung, die von einer tiefen Depression in eine manische Phase – im Sinne des absoluten Hochgefühls – wechseln, sind sehr oft nicht einverstanden, wenn ihr Lebensgefühl chemisch nivelliert wird. Sie sagen dann: Das bin nicht ich. Aber auch in den ganz normalen Stimmungen finden sich solche extremen Wechselbäder: himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt.
Eine andere psychopathologische Diagnose mit großen Gegensätzen ist die Borderline-Störung, die als Beziehungsstörung unter anderem dadurch gekennzeichnet ist, dass immer wieder unbedingte Liebe in abgrundtiefen Hass umschlägt.
Einen ähnlich massiven Umschlag von einem Extrem in das andere, allerdings auf neuronaler Ebene, haben wir
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