Mein Koerper und ich - Freund oder Feind
lohnt es sich, einmal genauer hinzuschauen, wie das gehen kann, denn jetzt sind wir ganz besonders darauf angewiesen, dass unser Körper uns nicht im Stich lässt. Und er ist darauf angewiesen, dass er nicht im Stich gelassen wird! Jetzt geht es ganz besonders um eine gute und innige Beziehung – mit wem? Mit sich selbst. Wie ich weiter oben schon sagte: Man kann sich nur in Frieden trennen, wenn man es (einigermaßen) gut miteinander hatte, wenn die gegenseitigen Bilanzen (einigermaßen) ausgewogen sind und man sich nicht zu viel schuldig geblieben ist.
Alte Ehepaare versuchen manchmal, ihre Beziehungsbilanz auszugleichen, wenn sie den Eindruck haben, dass einer dem anderen etwas schuldig geblieben ist.
Ich traf so ein Paar vor längerer Zeit und war verwundert darüber, mit welcher Demut der Mann seine Frau überallhin begleitete, ihr auf die Beine und ins Auto half, dort geduldig wartete, bis unsere Therapiestunde zu Ende war, sie etliche Male »in die Kur« brachte, dort bei ihr blieb, obwohl es ihm überhaupt nicht zusagte, und so fort.
Als ich ihn einmal am Telefon fragte – er selbst nahm keine Beratung in Anspruch –, ob ihm das nicht manchmal zu viel sei, sagte er sehr bestimmt, dass das nicht die (richtige) Frage wäre: Er habe bei seiner Frau etwas gutzumachen. Sie habe ihn, zu einer früheren Zeit, als es ihm sehr schlecht gegangen sei, er depressiv war und auch getrunken habe, nicht verlassen, habe zu ihm gestanden, und nun, da es ihr schlecht gehe, sei er eben dran – er mache das gern. Seine Frau, die ich darauf auch ansprach, sagte, fast wörtlich, das Gleiche.
Es dauerte einige Jahre, bis die Schuld abgetragen war und sich beide zusammen ihres gesicherten und wohlhabenden Daseins erfreuen konnten – das begann mit einer großen Kreuzfahrt, die sie wollte und er ebenfalls genoss. Da begannen die erheblichen und behindernden Beschwerden der Frau, die vorher den großen »Betreuungsaufwand« erfordert hatten, abzuklingen. Wahrscheinlich hatten sie beide darauf vergessen, und so konnten sie aus ihrer Bilanzierungsdynamik unversehens aussteigen.
Das Wort »Betreuung« hat in diesem Alter ja einen besonderen Stellenwert, man schließt dafür schon in ganz jungen Jahren eine Versicherung ab für die »Pflege« oder kauft sich gleich eine Wohnung für »betreutes« Wohnen, und so ist es kein Wunder, dass viele ältere Leute und deren Kinder sich immer mal wieder fragen, wie das denn werden soll, wenn die Mama oder der Papa betreut und gepflegt werden müssen. Die Meinungen zwischen beiden Parteien gehen da häufig sehr auseinander.
Mein Nachbar, ein ansehnlicher und charmanter Mann von über neunzig, der jeden Tag gegen Mittag wohl gekleidet, mit einem kleinen am Handgelenk baumelnden Täschchen das Haus verließ und in die Stadt ging – zu Fuß: er brauche Bewegung! –, um dort seine langjährige Freundin zu treffen, dieser Mann war ständig gefährdet, von seiner Tochter in die bei ihr schon bereitstehende Einliegerwohnung abtransportiert zu werden. Es grauste ihm davor, er lebte gern »für sich«, und außerdem konnte er seinen Schwiegersohn nicht leiden. Der war mittlerweile auch schon an die siebzig und ein starrköpfiger Mensch, was ja eigentlich nur seine Frau etwas anging – mein Nachbar sagte: Das geht mich nichts an. Nun hatte dieser alte Mann hin und wieder gewisse altersbedingte Beschwerden, war manchmal, also vorübergehend, verwirrt, fand seine Schlüssel nicht mehr oder traf nicht das Schlüsselloch, und jedesmal sagte er zu mir oder ich zu ihm: »Sagen Sie nichts meiner bzw. Ihrer Tochter!« Wenn ich die Tochter traf, die einmal in der Woche nach ihm sah und seine Wohnung putzte, sagte sie: »Es wäre so viel einfacher, wenn er endlich bei uns wohnen würde, dann würde ich sehen, wie es ihm geht.« – Er sagte: »Dann hätte sie mich unter Kontrolle.« Eines Tages, da war er 96, verfrachteten sie ihn, als er gerade wieder einmal einen schwachen Tag hatte, ins Auto und fuhren davon – ich bin heute noch ganz traurig, wenn ich daran denke. Als die Tochter seine Wohnung ausräumte, sagte sie: »Das ist jetzt natürlich schade, seine Freundin haben sie in ein Altersheim in der Südpfalz gesteckt, da können sie sich gar nicht mehr sehen …« Mein Nachbar ist dann bald gestorben.
Ich denke oft: Junge Leute können es sich leisten, krank zu sein und dann wieder gesund und dann wieder krank, so geht es das ganze Leben lang. Alte Leute können sich das nicht leisten, sie werden
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