Mein Koerper und ich - Freund oder Feind
geraumer Zeit nicht mehr. Vor ein paar Monaten hatte er einen leichten Schlaganfall gehabt, von dem er sich aber gut erholt hatte – außer einer leichten Gehschwäche war nichts zurückgeblieben. Nun kümmerte sich eine Freundin liebevoll um ihn – eine Frau, die er schon lang kannte, die ihm schon immer sehr zugetan war, jünger als er, intellektuell eine gute Partnerin – er war ihr für ihre Fürsorge außerordentlich dankbar und fühlte sich, besonders seit dem Schlaganfall, auf sie angewiesen. Bei unserem ersten Gespräch gab es überhaupt keinen Hinweis darauf, was das Symptom – Panikattacken in der Nacht – mitzuteilen versuchte. Es musste, wegen der Heftigkeit und Hartnäckigkeit, etwas Wichtiges sein, so viel war klar. Aber was?
Im zweiten Gespräch sagte der Mann, der übrigens ein überaus schöner, lebendiger, geistvoller und charmanter Mann war, dass diese Frau – die er liebte und schätzte und brauchte und nicht verlieren wollte und durfte – sich ihm gegenüber rechthaberisch, zurechtweisend, dominant, scharfzüngig und demütigend verhielt. Aber er nehme das nicht so ernst, er kenne ja seinen eigenen Wert und nehme es ihr nicht übel, sie habe eine schwere Kindheit gehabt und auch sonst viel Pech im Leben und er selbst sei jetzt eben alt und abhängig und da müsse man so manches in Kauf nehmen und er sei ja vor allem dankbar, dass sie bei ihm sei.
Abends ging die Freundin immer nach Hause in ihre eigene Wohnung – und er sank erleichtert in seinen ersten Schlaf. Dann aber, ein bisschen später, regte sich – weil im Schlaf das vernünftige Großhirn sich zurückzieht – seine Seele, sein Unbewusstes und schrie um Hilfe. Man stelle sich einen Mann vor, der sein ganzes Leben, sicher nicht ohne Grund, alles um sich herum dirigiert hat, der nun im Alter gemaßregelt und zurechtgewiesen wird! Und der sich demütigen lässt, weil er nun alt und schwach ist. Vom Dirigieren zu dirigiert werden – muss das sein? Als ich ihm erklärte, was da los war, erschrak er und sagte: »Ich kann sie nicht wegschicken.« Das wäre auch weder klug noch gut für sie und ihn. Ich gab ihm das Bild von dem Mantel mit nach Hause, womit er sich bedeckt halten konnte, sodass nichts mehr ihn im Inneren berührte, was ihn hätte demütigen können. Er konnte die scharfe Stimme und Rechthaberei draußen lassen und – bei sich selbst zu Hause bleibend – humorvoll und freundlich darüber hinwegsehen, bzw. -hören. Als Musikdirigent war er ja besonders empfindlich für und störbar durch Disharmonien. Die Mantel-Strategie klappte gut und sogleich beruhigte sich seine Seele und ließ ihn wieder schlafen. So einfach geht das – manchmal.
Der Mantel ist eine mächtige Schutzmetapher, Sie finden ihn auf der CD.
Wenn Sie dies lesen, so fällt Ihnen hoffentlich der eine oder andere Mensch ein, der in ein Altersheim verfrachtet worden ist und dort ähnliche Erfahrungen machen musste. Und es wird einem auch klar, dass es genau dies ist, was Menschen dazu veranlasst zu sagen: Ich will zu Hause und mein eigener Herr bleiben – auch wenn man eine Frau ist.
Eine Freundin erzählte mir einmal von ihrer Mutter, die im Schwäbischen wohnte. Als ihr Mann – ein Frühaufsteher – gestorben war, genoss sie es überaus, dass sie selbst nicht mehr so früh Kaffee kochen musste, und blieb jeden Tag lang im Bett. Damit die Nachbarn das nicht merkten, stellte sie den Wecker auf die früher übliche Zeit, zog die Rollos hoch, holte die Zeitung herein, die sie dann gegen Mittag im Bett lesen wollte, und legte sich gemütlich wieder hin.
Wie unerwartet sich Wünsche im Laufe des Lebens ändern können und wie beharrlich so ein Körper verlangt, dass das zur Kenntnis genommen wird, erwies sich kürzlich an einem 58-jährigen Patienten, dem es schon seit Jahren immer schlechter ging: Angefangen hatte es so um die 50 mit einem Wiederaufleben seiner Migräne, die vorher immer nur mal sporadisch aufgetreten war, nachdem sie im Kindesalter, bis zur Pubertät häufig und belastend gewesen war. Bei Jungs ist das häufig so. Im Kindesalter haben ungefähr gleich viel Jungen wie Mädchen Migräneanfälle, im Erwachsenenalter sind es dreimal so viele Frauen. Wenn man annimmt, dass in der Pubertät gerade die Jungs ihrer Wut nach außen Luft verschaffen, ist das sicher eine Teilerklärung dafür (Sacks 2004). Bei dem Patienten waren die Migräneanfälle also zurückgekehrt. Damit aber nicht genug: Er hatte starke Schmerzen im unteren Rücken
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