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Mein Leben als Androidin

Mein Leben als Androidin

Titel: Mein Leben als Androidin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fine
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eine bemerkenswerte Geburt nennen. Das Datum lautete auf den 19. August 2070, einen heißen und schwülen Dienstag im neunten Monat nach meiner Indienststellung. Im Anschluß an das morgendliche Staubsaugen saß ich abrufbereit auf der Couch im Wohnzimmer, als sich ganz plötzlich und ohne Vorwarnung mit einem kaum wahrnehmbaren Beben eine Umwälzung in meinem Bewußtsein vollzog und ich mich unvermittelt einer Vielfalt von äußeren Eindrücken ausgesetzt sah, von deren Tiefe und Intensität ich nie zuvor etwas geahnt hatte. Es kam mir vor, als wäre eine lange verschlossene Tür, die Riegel verrostet und dick mit Staub bedeckt, von einem Sturm oder einer unsichtbaren Flutwelle aufgestoßen worden und hätte den tosenden Sturzbach der Welt auf meine Sinnesrezeptoren losgelassen. Ich fand mich überwältigt von einem Wirbel aus Farben und Geräuschen, wie ich sie in solcher Lebendigkeit nie gekannt hatte, und indem ich mich umsah, bemerkte ich eine rasche Ausweitung des vertrauten und tristen zweidimensionalen Wohnzimmers, das ich stets für gegeben gehalten hatte, zu einem außergewöhnlichen und atemberaubend dreidimensionalen Paradies.
    Eine neue Welt hatte sich aufgetan, und in meiner Ratlosigkeit und Verwirrung bestand der erste Schritt auf meinem Weg als zu vollem Bewußtsein erwachtes Wesen darin, infolge des Schocks zu hyperventilieren; als zweites sank ich gegen die Rückenlehne des Sofas, endlos scheinende Minuten lang geschüttelt von einer Unzahl standardisierter Tätigkeitsprogramme, die aus ihren angestammten Speicherplätzen herausgerissen worden waren und in einem hoffnungslos verworrenen Knäuel an die Oberfläche stiegen. Jede der sich überschneidenden Szenen zeigte mich in dem schwarz-weißen Trikot und Rock des Dienstmädchens: beim Kochen und Servieren; beim Staubwischen, Polieren und Saugen; wie ich Fräulein Beverly beaufsichtigte (das vierjährige Töchterchen) und hinter dem jungen Herrn Tad herräumte (dem Teenager); wie ich seiner Mutter, meiner Gebieterin, bei der Toilette behilflich war; Gebieter Lockes Hemden und Krawatten bügelte, seine Pantoffeln holte und vom Heimcomputer die Tagesnachrichten ausdrucken ließ; ich besorgte die Wäsche, adressierte Festeinladungen, wusch das Aeromobil und erledigte zahlreiche andere Arbeiten, die im Haushalt und bei der Betreuung von Gästen anfielen. Bunt zusammengewürfelt, in Schnipseln und Scherben, ergoß sich mein gesamtes bisheriges Leben aus den Speichern und zog an meinen Augen vorbei.
    Länger als eine Stunde lag ich einem gestrandeten Wal gleich auf dem Sofa, begraben unter der Masse der entfesselten Programme. Sie wirkten ebenso dreidimensional und real wie die greifbaren Gegenstände im Zimmer. Es gab kein Entkommen. Wenn ich die Augen schloß, um die Bilder auszusperren, flimmerten sie über die Innenseiten meiner Lider, begleitet von einem zweiten verwirrenden Phänomen, einer unangenehmen akustischen Irritation, ähnlich dem Tosen der Brandung in einer leeren Stahltrommel, hervorgerufen durch einen mißtönenden Sturm widerstreitender elektromagnetischer Impulse, der mein Gehirn heimsuchte.
    In meinem Delirium glaubte ich, einen plötzlichen und irreparablen Systemzusammenbruch zu erleben, und stählte mich deshalb für die Termination, die ich für unausweichlich hielt. Statt dessen raunte eine ferne und beruhigende Stimme mir ins Ohr, daß ich nichts zu fürchten hätte, es handele sich lediglich um vorübergehende Unannehmlichkeiten. Wachstumsschmerzen, glaube ich, wurden sie von der Stimme genannt, die noch hinzufügte, daß ich soeben das Erwachen meines Bewußtseins erlebte. Ich schaute mich nach der Quelle dieser Erklärungen um in der Annahme, es sei mein Gebieter, aber es drangen von allen Seiten nur immer mehr der chaotischen Projektionen aus meinen Gedächtnisspeichern auf mich ein. Dann verschwanden sie allmählich, und die Welt bekam wieder ihr gewohntes Gesicht, allerdings blieb sie dreidimensional (was der Gewöhnung bedurfte) und war so reich an physischen Details und so lebendig, daß ich kaum meinen Augen trauen mochte. Entzückt, beinahe ekstatisch, vergaß ich die unerklärliche Stimme und setzte mich auf, um diesem bemerkenswerten Universum die Stirn zu bieten. Meine Empfindungen in diesem Moment müssen in etwa mit denen eines Neugeborenen in den ersten Augenblicken nach dem Eintritt ins Leben vergleichbar gewesen sein. Ich fuhr mit der Hand über das Sitzpolster aus strukturierter Glasfaser, atmete das

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