Mein Leben bei al-Qaida - Nasiri, O: Mein Leben bei al-Qaida - Inside the Jihad. My Life with Al-Qaida. A Spy's Story
aus Nonnen bestand. Wir waren etwa zweihundert Kinder dort, alle anderen waren weiße Europäer. Ich war der einzige Araber.
Mir war ebenso wie allen anderen dort klar, dass ich anders war. Niemand war auf irgendeine Art grausam zu mir. Die anderen Kinder spielten mit mir, und ich spielte mit ihnen. Manchmal hänselten sie mich ein bisschen, wie das Kinder eben tun, aber ich gab es ihnen jedes Mal zurück. Das war nichts Besonderes.
Aber an Sonntagen war alles anders. Am Sonntag gingen wir gemeinsam zur Kirche, und die Gottesdienste waren für mich etwas unglaublich Seltsames. Die Gebete, die heilige Kommunion, der Weihrauch – das alles war so ganz anders als der Ablauf in den Moscheen, die ich während des Sommers oder bei meinen Besuchen zu Hause in den Ferien aufsuchte. Und es gab hier auch Musik – einen Mann, der Gitarre spielte. Im Islam gibt es im Haus Gottes keine Musik. Ich war mit der Vorstellung aufgewachsen, dass so etwas ein großes Sakrileg ist. Meistens empfand ich diese Musik einfach nur als komisch, manchmal lachte ich ganz offen darüber. Dieses Benehmen machte wohl einige der anderen Kinder nervös.
Meine Familie sah ich in jenen Jahren nicht sehr oft. Im Sommer reisten wir alle gemeinsam nach Marokko, und ab und zu kam ich auf ein langes Wochenende oder in den Ferien nach Brüssel. Nur selten, vielleicht zwei- oder dreimal im Jahr, kamen meine Eltern mich besuchen und blieben dann einige Stunden. Aber mein eigentliches Leben spielte sich im Sanatorium ab.
In jener Zeit entwickelte sich meine Vorliebe für Flugzeuge. Mein Vater hatte einen Freund, der für eine Fluggesellschaft arbeitete, und dieser Mann erzählte mir manchmal von Flugzeugen und schenkte mir Bausätze für Modellflugzeuge. Bei meinen Familienbesuchen in Brüssel ging ich immer wieder ins Armeemuseum im Cinquantenaire-Park. Dort gab es eine riesige Halle, in der Flugzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg ausgestellt waren, und ich verbrachte viele Stunden mit der Betrachtung sämtlicher Details. Ich war unglaublich neugierig. Bei unseren Flügen zwischen Marokko und Belgien drängte ich stets ins Cockpit und bat die Piloten, mir die Instrumente zu erklären.
Der größte Teil meines Wissens über Flugzeuge stammte jedoch von Buck Danny. Buck Danny war der Held eines belgischen Comicstrips, und ich las jedes Buck-Danny-Album von vorn bis hinten durch. Buck war groß, athletisch, blond, sah gut aus, und er war ein tapferer Pilot, der für Amerika kämpfte und mit seinen Freunden Jerry Tumbler und Sonny Tuckson alle Arten von gefährlichen Einsätzen flog. Die Comics waren sehr realistisch gestaltet, ich lernte die Namen sämtlicher Flugzeuge und erfuhr eine Menge darüber, wie man sie flog. Ich las sämtliche Alben immer wieder durch, und nachts im Bett träumte ich davon, Jagdflieger zu werden, wie Buck Danny. Das wünschte ich mir mehr als alles andere.
Dann wurde mein Ohr zerstört. Die Ärzte in Belgien versuchten es wieder in Ordnung zu bringen – ich wurde dreimal operiert -, aber sie konnten mir nicht helfen. Auf dem linken Ohr bin ich heute noch nahezu vollständig taub. Ich wusste, dass ich niemals zur Armee gehen und niemals am Steuerknüppel eines Flugzeugs sitzen könnte. Ich hatte kein Ziel mehr, für das ich lebte. Ich hatte alles verloren, was mir wichtig war.
Jeder Junge hegt einen Traum. Er will Feuerwehrmann werden oder Astronaut oder Präsident, irgendetwas Großartiges. Natürlich werden sich die allermeisten Jungen niemals ihren Kindheitstraum erfüllen, aber das ist nicht weiter wichtig. Ein Junge wächst heran und wird schließlich zum Mann, und dabei verabschiedet er sich nach und nach von seinem Traum, der ihm vielleicht als wehmütige Erinnerung erhalten bleibt. Wenn dieser Traum jedoch in einem sehr jungen Alter zerstört wird, dann zerbricht der Junge – oder er wird darüber stärker. Er wird stark, weil er nichts mehr zu verlieren hat. Er wird sich von seiner Zukunft verabschieden.
Ein Junge ohne einen Traum ist gefährlich.
ÉDOUARD
„Hallo, ich heiße Sonny Tuckson. Ich bin ein Freund von Buck Danny.“
Es war Spätfrühling, und ich zog aus meinem Schlafsaal im Sanatorium aus. Ich war zehn Jahre alt, und es war Zeit für einen Schulwechsel. Ich würde in derselben Stadt leben, aber jetzt bei Pflegeeltern unterkommen.
Das wusste ich zwar alles, aber auf die Begegnung mit Édouard war ich nicht vorbereitet. Ich stand vor dem Schlafsaal, als er mit einem gelben Volvo vorfuhr. Er sprang aus dem
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