Mein Leben bei al-Qaida - Nasiri, O: Mein Leben bei al-Qaida - Inside the Jihad. My Life with Al-Qaida. A Spy's Story
behoben, und mein Vater arbeitete nicht mehr in Brüssel. Zuerst dachte ich, das würde eine wunderbare Heimkehr werden. In Belgien hatte ich mich nie zu Hause gefühlt, deshalb sehnte ich mich nach meiner wahren Heimat Marokko.
Je länger ich aus Marokko weg war, desto großartiger wurde das Land für mich. Es war zum allgemeinen Maßstab geworden. Als ich heranwuchs, wurden die Dinge, die mich in Belgien mein Anderssein empfinden ließen, zu einer Quelle des Stolzes. Ich war ein Nordafrikaner, ein Muslim. Ich war etwas Besseres als diese weißen Europäer.
Als ich dann tatsächlich nach Marokko zurückkehrte, erkannte ich rasch, dass dieses Land nicht mehr meine Heimat war. Ich fühlte mich dort so fremd wie zuvor in Belgien. Seit meinem fünften Lebensjahr hatte ich fast nur noch Französisch gesprochen, und mein Akzent und mein Wortschatz waren im Vergleich zu dem der marokkanischen Jungen sehr viel gehobener. Deswegen machten sie sich über mich lustig. Und sie machten sich über mich lustig, weil ich nur sehr wenig Arabisch konnte. Eigentlich machten sie sich im Umgang mit mir über alles lustig – auch über meine Kleidung, ja sogar über meinen Geruch. Meine Mutter hatte in Belgien gelernt, dass man beim Waschen auch Weichspüler verwendet, was in Marokko niemand tat. Deshalb bekam ich zu hören, ich würde wie ein gaouri riechen – wie ein Christ.
Ich spürte, wie ich innerlich verhärtete. Das Land, das ich liebte, erwiderte diese Liebe nicht mehr, also schwand auch meine Liebe zusehends dahin. Schon bald schien mir Belgien ein sehr viel besseres Land zu sein, Marokko wirkte im Vergleich so schwach, so rückständig. Ich vermisste die Freiheit in Europa, die offene Art, in der die Menschen dort miteinander sprachen, und den angstfreien Umgang miteinander, den ein Mann und eine Frau pflegen konnten. Die Art, in der die Menschen über alles Mögliche laut miteinander redeten und stritten.
Marokko dagegen war korrupt und repressiv. Ohne Bestechungsgelder funktionierte gar nichts – man gab diesem Typen ein bisschen, und auch jener bekam noch etwas, weil man sonst nichts zustande brachte. Die Verwaltung war durch und durch bestechlich, sie funktionierte nur auf der Basis von Schmiergeldern und Gunstbeweisen, und deshalb war das ganze Land eine einzige Katastrophe. Es gab keine nennenswerten Programme zur Sozialfürsorge. Die Straßen waren in einem elenden Zustand – wenn es überhaupt Straßen gab. Die Züge, die Busse: eine einzige Katastrophe. Die Polizei war allgegenwärtig, und die Bevölkerung lebte in ständiger Angst. Die Wände hatten Ohren, Nachbarn bespitzelten sich gegenseitig, und deshalb sprach auch niemand über irgendetwas, was von Bedeutung war. Alles drehte sich um den gesellschaftlichen Status: Wer hatte was – und wie viel davon. Wer kein Geld hatte, wurde wie ein Stück Dreck behandelt.
Ich hasste dieses Leben.
Außerdem hatte ich mich meiner Familie entfremdet. Sie war während meiner Abwesenheit in Belgien zerbrochen. Erste Anhaltspunkte dafür hatte ich gewonnen, als wir unsere Sommer gemeinsam in Marokko verbrachten. Mein Vater war ein wahrer Patriarch, ein typischer marokkanischer Mann, und er behandelte meine Mutter sehr schlecht. Er hatte viele Geliebte, geriet aber sofort in Rage, wenn seine Frau das geringste Anzeichen von Unabhängigkeit erkennen ließ. Manchmal schlug er sie, oft richtig brutal. Meine Brüder und Schwestern wussten alle darum, aber wir sprachen niemals über dieses Thema.
Meine Mutter war ein Engel. Einmal, ich war etwa zehn Jahre alt, blätterte sie mit mir ein Fotoalbum durch. Darin waren ausschließlich Bilder von ihrer eigenen Familie zu sehen, und sie zeigte auf alle abgebildeten Personen und nannte mir den Namen dazu. In diesem Album kamen viele hübsche Mädchen vor – erst seit kurzem zogen Mädchen meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich bat meine Mutter, etwas über jedes von ihnen zu erzählen, und wenn sie dem nachkam, fragte ich stets nach, ob ich dieses Mädchen heiraten könne, wenn ich einmal erwachsen sein würde. Meine Mutter lachte jedes Mal und erklärte mir, dass Familienmitglieder einander nicht heiraten könnten.
Am Schluss der Sammlung fand sich ein Bild von einem besonders schönen jungen Mädchen, doch meine Mutter klappte das Album zu, bevor ich es genauer betrachten konnte.
„Maman, du hast vergessen, mir etwas über die Letzte zu erzählen! “, beschwerte ich mich. Ich nahm ihr das Album aus den Händen und öffnete es
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