Mein Leben für dich
war ihm klar geworden, als er mit seiner Ausbildung als Automechaniker begonnen und sie nach einem schleppenden Jahr wieder abgebrochen hatte. Seither verdiente er sich das Geld für seine kleine Drecksbude hauptsächlich als Türsteher im Cage , einem alternativen Club in Sankt Pauli. Das war zwar ganz okay, aber auch nichts auf Dauer. Eigentlich war er wie Ben, das spürte er. Freiheitsliebend, eigenwillig, neugierig. Er wollte sich nicht unterkriegen und maßregeln lassen und vor Eintönigkeit irgendwann mit den Wochentagen durcheinandergeraten, weil jeder einzelne gleich verlief. Klar, es war mehr als ärgerlich, dass er seinen ersten wichtigen Auftrag verbockt hatte, sozusagen seine Eintrittskarte in die Gang, aber selbst wenn er im Knast gelandet wäre, hätte ihn das ein Stück weitergebracht. Dann wären diese ewigen Lügen um ihn wenigstens beseitigt gewesen und seine Mutter hätte sich von ihren Wunschvorstellungen verabschieden müssen.
Seit gut zwei Jahren hatten er und sein Bruder wieder Kontakt. Und innerhalb dieser zwei Jahre hatte Simon auch die anderen Leute aus der Gang kennengelernt. Coole Typen, vor allem dieser Rick, ihr Boss. Und endlich hatte er gewusst, wohin er passte, zu wem er gehören wollte.
»Los, jetzt sag endlich, Ben!« Simon konnte seinen Ärger und seine Aggression nicht länger verbergen. »Warum steigst du nicht selbst aus, wenn dich dein Leben so ankotzt?«
Ben schnaubte und hob den Blick. »Warum ich weitermache? Ganz einfach. Wenn man einmal so lange dabei ist wie ich, dann hat man keine andere Wahl. Für mich sind Rick und die Jungs wie eine Familie. Sie haben mich aufgenommen, als mich Papa mit siebzehn vor die Tür gesetzt hat. Ich brauchte jemanden. Rick hat mir damals geholfen und jetzt helfe ich ihm. So läuft das eben. Aber du passt nicht dazu. Das hast du noch nie, auch wenn Rick dir das Gefühl gibt, du wärst willkommen. Also, wenn du wirklich einen tieferen Sinn darin erkennen willst, warum ich für dich in den Knast gewandert bin, dann versteck dich nicht hinter deinem scheiß Selbstmitleid, sondern such dir einen Job und eine anständige Wohnung. Du siehst gut aus, hast ’nen ordentlichen Schulabschluss und mehr in der Birne, als du dir eingestehen willst. Ich sitze meine Zeit hier ab und fertig. Ist schließlich nicht das erste Mal. Für mich wird sich nichts ändern, okay? Ich kenne manche der Wärter besser als die Hälfte der Mädchen, mit denen ich vögle. Ich werde es mir einfach für ein paar Tage hinter Gittern gemütlich machen und dann geht es weiter wie bisher. Aber was dich betrifft – dir verbaut so ein Knastaufenthalt die Zukunft. Auch wenn es nur wegen versuchten Autodiebstahls ist.«
Simon starrte seinen Bruder wortlos an. Ben verstand nichts. Gar nichts. Er checkte nicht, dass es um mehr ging. Simon wollte ihm klarmachen, dass er ebenfalls niemanden hatte, auch wenn man ihn nicht vor die Tür gesetzt hatte. Dass er ein Umfeld suchte, zu dem er sich zugehörig fühlte. Dass er keinen Bock auf Alltagstrott hatte und schon gar nicht auf anbiedernde Vorstellungsgespräche im Anzug. Aber er kam nicht dazu, denn in diesem Moment ging die Tür auf.
»Wenn Sie bitte mitkommen würden? Ihre Zeit ist jetzt um.«
Simon warf seinem Bruder einen letzten müden Blick zu. »Okay, also … Wir sehen uns die Tage. Ich habe dir frische Klamotten und Rasierzeug besorgt.«
»Danke. Ach, und noch was, Simon …«
»Hm?«
»Denk dran, was ich dir gesagt habe. Sieh zu, dass du ihm aus dem Weg gehst.«
Mia
»Warte, Janine, leg noch nicht auf«, bettle ich. »Erzähl mir noch irgendetwas.« Es ist das erste Mal seit meinem Umzug nach Hamburg, dass ich mit meiner besten Freundin telefoniere, und im Geiste gehe ich all unsere gemeinsamen Bekannten aus dem Schweizer Internat durch. »Weißt du vielleicht was Neues von Lisa und diesem angeblichen Lord aus England?«
Janine quiekt auf. »Lisa und ein englischer Lord? Ach Quatsch, du kennst sie doch. Sie hat nur wieder Storys erzählt, um sich wichtigzumachen. Also, nach dem, was ich gehört habe, lief es so ab …«
Ich liege rücklings auf meinem Bett und fahre mir mit der rechten Hand über den Bauch, während ich dem neuesten Tratsch lausche. Wenn ich mich ausstrecke, mag ich meinen Bauch. Dann ist er so, wie er eigentlich immer sein sollte. Schön flach und in der Mitte wölbt er sich sogar ganz leicht nach innen. Nirgends Fettpölsterchen, in die man hineinzwicken kann. Ich habe es gehasst, wenn Chris das
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