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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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den Geschäften und dem Gedränge der Leute setzten sie sich am Ufer eines Flusses auf eine mit Graffiti beschmierte Bank und aßen ihr Eis. Ein paar Gänse knabberten ein paar Meter vor ihnen im Gras. Sie hatten die Köpfe gesenkt, in ihr Knabbern vertieft, völlig unbeeindruckt von Alice’ und Johns Gegenwart. Alice kicherte, fragte sich, ob die Gänse dasselbe von ihnen dachten.
    »Alice, weißt du, welchen Monat wir haben?«
    Vorhin hatte es geregnet, aber jetzt war der Himmel klar, und die Hitze der Sonne und die getrocknete Bank wärmten ihre Arme und Beine. Es tat so gut, im Warmen zu sein. Vieleder rosa und weißen Blüten von dem Holzapfelbaum neben ihnen lagen auf dem Boden verstreut wie Party-Konfetti.
    »Es ist Frühling.«
    »Welcher Monat des Frühlings?«
    Alice leckte an ihrem Irgendwas-mit-Schokolade-Eis und dachte sorgfältig über seine Frage nach. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal auf einen Kalender gesehen hatte. Es schien lange her zu sein, seit sie zuletzt zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort hatte sein müssen. Und wenn sie an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit irgendwo sein musste, dann wusste John darüber Bescheid und sorgte dafür, dass sie dort war, wenn sie sollte. Sie verwendete keinen elektronischen Terminkalender mehr, und sie hatte auch aufgehört, eine Armbanduhr zu tragen.
    Augenblick. Die Monate des Jahres.
    »Ich weiß nicht, welcher ist es denn?«
    »Mai.«
    »Oh.«
    »Weißt du, wann Annas Geburtstag ist?«
    »Ist er im Mai?«
    »Nein.«
    »Na ja, ich denke, Annes Geburtstag ist im Frühling.«
    »Nein, nicht Anne, Anna.«
    Ein gelber Lastwagen donnerte laut über die Brücke in ihrer Nähe und erschreckte Alice. Eine der Gänse breitete die Flügel aus und kreischte den Lastwagen an, um die übrigen Gänse zu verteidigen. Alice fragte sich, ob die Gans tapfer war oder hitzköpfig und Streit suchte. Sie kicherte bei dem Gedanken an die resolute Gans.
    Sie leckte an ihrem Irgendwas-mit-Schokolade-Eis und studierte die Architektur des Backsteingebäudes auf der anderen Seite des Flusses. Es hatte viele Fenster und ganz oben eine Uhr mit altmodischen Ziffern auf einer goldenen Kuppel. Es sah wichtig und vertraut aus.
    »Was ist das da drüben für ein Gebäude?«, fragte Alice.
    »Das ist die Business School. Es ist ein Teil von Harvard.«
    »Oh. Habe ich in diesem Gebäude unterrichtet?«
    »Nein, du hast in einem anderen Gebäude unterrichtet, auf dieser Seite des Flusses.«
    »Oh.«
    »Alice, wo ist dein Büro?«
    »Mein Büro? Das ist in Harvard.«
    »Ja, aber wo in Harvard?«
    »In einem Gebäude auf dieser Seite des Flusses.«
    »In welchem Gebäude?«
    »Es ist eine Halle, glaube ich. Du weißt doch, ich gehe nicht mehr dorthin.«
    »Ich weiß.«
    »Dann spielt es doch eigentlich keine Rolle, wo es ist, oder? Warum konzentrieren wir uns nicht auf die Dinge, die wirklich wichtig sind?«
    »Das versuche ich ja.«
    Er hielt ihre Hand. Seine war wärmer als ihre. Ihre Hand fühlte sich so gut an in seiner. Zwei der Gänse watschelten ins stille Wasser. Im Fluss schwammen keine Leute. Vermutlich war es für die Leute noch zu kalt.
    »Alice, willst du noch länger hier sein?«
    Seine Augenbrauen nahmen eine ernste Form an, und die Falten um seine Augen vertieften sich. Diese Frage war ihm wichtig. Sie lächelte, zufrieden mit sich, dass sie endlich eine überzeugte Antwort für ihn hatte.
    »Ja. Ich sitze gern hier mit dir. Und ich bin noch nicht fertig.«
    Sie hielt ihr Irgendwas-mit-Schokolade-Eis hoch, um es ihm zu zeigen. Es hatte zu schmelzen begonnen und tropfte über die Ränder der Waffel auf ihre Hand.
    »Warum? Müssen wir denn schon gehen?«, fragte sie.
    »Nein. Lass dir Zeit.«

JUNI 2005
    Alice saß an ihrem Computer und wartete darauf, dass der Bildschirm hell wurde. Cathy hatte eben angerufen, wollte sich nach ihr erkundigen, war besorgt. Sie sagte, Alice hätte schon seit einer ganzen Weile nicht mehr auf ihre E-Mails geantwortet, sie sei seit Wochen nicht mehr im Demenz-Chatroom gewesen, und gestern sei sie auch nicht zum Treffen der Selbsthilfegruppe gekommen. Erst als Cathy von der Selbsthilfegruppe sprach, wusste Alice, wer diese besorgte Cathy am Telefon war. Cathy sagte, zwei neue Leute seien zu ihrer Selbsthilfegruppe gestoßen, die Gruppe sei ihnen von Leuten empfohlen worden, die auf der Demenzpflege-Konferenz gewesen waren und Alice’ Ansprache gehört hatten. Alice sagte, das seien ja wunderbare

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