Mein Leben Ohne Gestern
Gestern davor kann ich mich nicht erinnern.
Und ich habe keine Kontrolle darüber, welches Gestern ich behalte und welches gelöscht wird. Diese Krankheit lässt nicht mit sich handeln. Ich kann ihr nicht die Namen der Präsidenten der Vereinigten Staaten im Gegenzug für die Namen meiner Kinder bieten. Ich kann ihr nicht die Namen derHauptstädte der Bundesstaaten geben und die Erinnerungen an meinen Ehemann behalten.
Oft habe ich Angst vor dem nächsten Tag. Was, wenn ich aufwache und nicht mehr weiß, wer mein Ehemann ist? Was, wenn ich nicht mehr weiß, wo ich bin, oder mich selbst nicht mehr im Spiegel erkenne? Wann werde ich nicht mehr ich selbst sein? Ist der Teil meines Gehirns, der für mein einzigartiges ›Ich-Sein‹ zuständig ist, für diese Krankheit anfällig? Oder ist meine Identität etwas, das über Neuronen, Proteine und defekte DNA-Moleküle hinausgeht? Sind meine Seele und mein Geist immun gegen die Verheerungen der Alzheimer-Krankheit? Ich denke, ja.
Die Diagnose ›Alzheimer‹ zu bekommen, ist, als würde man mit einem scharlachroten A gebrandmarkt werden. Genau das bin ich jetzt: jemand mit Demenz. Als genau das habe ich mich selbst eine Zeit lang definiert, und als genau das definieren andere mich noch immer. Aber ich bin nicht nur, was ich sage oder tue oder in Erinnerung behalte. Ich bin so viel mehr als das.
Ich bin eine Ehefrau, Mutter und Freundin und werdende Großmutter. Ich fühle und verstehe noch immer die Liebe und Freude in diesen Beziehungen, und ich bin sie wert. Ich nehme noch immer aktiv an der Gesellschaft teil. Mein Gehirn funktioniert nicht mehr gut, aber ich benutze meine Ohren, um uneingeschränkt zuzuhören, biete meine Schultern zum Ausweinen und benutze meine Arme, um andere mit Demenz zu umarmen. Durch eine Selbsthilfegruppe für Demenzkranke im Frühstadium, durch die Internet-Selbsthilfe Dementia Advocacy and Support Network International und dadurch, dass ich heute zu Ihnen spreche, helfe ich anderen mit Demenz, besser damit zu leben. Ich bin nicht jemand, der im Sterben liegt. Ich bin jemand, der mit Alzheimer lebt. Und das will ich tun, so gut es mir möglich ist.
Ich möchte Ärzte dazu aufrufen, eine frühzeitige Diagnose zu stellen und nicht davon auszugehen, dass Leute in denVierzigern und Fünfzigern, die an Gedächtnis- und Kognitionsproblemen leiden, depressiv oder gestresst oder in den Wechseljahren sind. Je früher die richtige Diagnose gestellt wird, desto früher können wir anfangen, Medikamente zu nehmen, in der Hoffnung, das Fortschreiten der Krankheit hinauszuzögern und lange genug auf einer Ebene der Stabilisierung zu bleiben, um in den Nutzen einer besseren Behandlung oder vielleicht bald eines Heilmittels zu kommen. Ich hoffe noch immer auf ein Heilmittel – für mich, für meine Freunde mit Demenz, für meine Tochter, die dasselbe mutierte Gen in sich trägt. Ich werde wohl niemals wiedererlangen, was ich bereits verloren habe, aber ich kann an dem festhalten, was ich jetzt habe. Und ich habe noch immer viel.
Bitte sehen Sie nicht auf unser scharlachrotes A und schreiben Sie uns nicht ab. Sehen Sie uns in die Augen, reden Sie direkt mit uns. Werden Sie nicht panisch, und nehmen Sie es nicht persönlich, wenn wir Fehler machen, denn das werden wir. Wir werden uns wiederholen, wir werden Dinge verlegen, und wir werden uns verlaufen. Wir werden Ihren Namen vergessen und was Sie vor zwei Minuten gesagt haben. Wir werden aber auch unser Bestes tun, um unsere kognitiven Verluste auszugleichen und zu überwinden.
Ich möchte Sie dazu aufrufen, uns Kraft zu geben – nicht uns einzuschränken. Wenn jemand eine Rückenmarksverletzung hat, wenn jemand ein Bein oder einen Arm verloren hat oder nach einem Schlaganfall eine funktionale Behinderung hat, dann bemühen sich Angehörige und Ärzte nach Kräften, um ihm wieder zu einem normalen Leben zu verhelfen, um Wege zu finden, wie er trotz seiner Verluste zurechtkommen kann. Arbeiten Sie mit uns zusammen. Helfen Sie uns, Mittel und Wege zu finden, wie wir trotz unserer Gedächtnis-, Sprach- und Kognitionsverluste weiterhin funktionieren können. Rufen Sie zur Beteiligung an Selbsthilfegruppen auf. Wir können einander helfen, sowohl die Menschen mit Demenz wie auchihre pflegenden Angehörigen, durch dieses Dr.-Seuss-Land zu steuern, in dem wir weder hier noch da sind.
Wenn mein Gestern verschwindet und mein Morgen unsicher ist, wofür lebe ich dann noch? Ich lebe für jeden Tag. Ich lebe im
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