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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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Augenblick. Irgendwann, in nicht allzu langer Zeit, werde ich vergessen haben, dass ich vor Ihnen gestanden und diese Ansprache gehalten habe. Aber dass ich sie irgendwann bald vergessen werde, heißt nicht, dass ich sie nicht heute in jeder Sekunde gelebt habe. Ich werde das Heute vergessen, aber das heißt nicht, dass das Heute nicht wichtig war.
    Ich werde nicht mehr gebeten, Vorträge über die Sprache an Universitäten und auf Psychologiekonferenzen auf der ganzen Welt zu halten. Aber ich stehe heute vor Ihnen und halte den, wie ich hoffe, einflussreichsten Vortrag meines Lebens. Und ich habe die Alzheimer-Krankheit. Ich danke Ihnen.«
    Zum ersten Mal, seit sie begonnen hatte, sah sie von ihrer Rede auf. Sie hatte nicht gewagt, den Blickkontakt zu den Worten auf den Seiten abzubrechen, bevor sie fertig war, aus Angst, den Faden zu verlieren. Zu ihrer aufrichtigen Verblüffung war der ganze Ballsaal aufgestanden und klatschte Beifall. Es war mehr, als sie sich erhofft hatte. Sie hatte sich zwei schlichte Dinge erhofft – während des Vortrags nicht ihre Lesefähigkeit zu verlieren und ihn zu Ende zu bringen, ohne sich lächerlich zu machen.
    Sie sah in die vertrauten Gesichter in der vordersten Reihe und wusste ohne jeden Zweifel, dass sie ihre bescheidenen Erwartungen bei Weitem übertroffen hatte. Cathy, Dan und Dr. Davis strahlten. Mary tupfte sich mit einer Hand voll rosa Taschentücher die Augen ab. Anna klatschte und lächelte, ohne sich auch nur kurz Zeit zu nehmen, sich die Tränen abzuwischen, die ihr übers Gesicht liefen. Tom jubelte und klatschte und sah aus, als könne er sich kaum beherrschen, zu ihr hochzulaufen, um sie zu umarmen und zu beglückwünschen. Sie konnte es ebenfalls kaum erwarten, ihn zu umarmen.
    John stand da, groß und ungeniert in seinem Lucky-Gray-T-Shirt, mit untrüglicher Liebe in seinen Augen und Freude in seinem Lächeln, und applaudierte ihr.

April 2005
    Der Energieaufwand, den es erforderte, ihren Vortrag zu schreiben, ihn erfolgreich zu halten und Hände zu schütteln und mit, wie es schien, Hunderten begeisterter Teilnehmer der Demenzpflege-Konferenz wortgewandt Konversation zu machen, wäre schon für jemanden ohne die Alzheimer-Krankheit enorm gewesen. Für jemand mit Alzheimer war er mehr als enorm. Alice schaffte es, danach noch eine Zeit lang zu funktionieren, dank des Adrenalinschwalls, der Erinnerung an den Beifall und eines erneuerten Selbstvertrauens in ihren inneren Zustand. Sie war Alice Howland, tapfere und bemerkenswerte Heldin.
    Aber dieses Hoch war nicht auf Dauer aufrechtzuerhalten, und die Erinnerung schwand rasch. Sie verlor ein wenig von ihrem Selbstvertrauen und ihrem Status, als sie sich die Zähne mit Feuchtigkeitslotion putzte. Sie verlor noch ein bisschen mehr davon, als sie den ganzen Vormittag über versuchte, John mit der Fernbedienung des Fernsehers anzurufen. Und sie verlor den letzten Rest, als ihr eigener unangenehmer Körpergeruch ihr sagte, dass sie seit Tagen nicht mehr geduscht hatte, sie aber nicht den Mut besaß oder die Erkenntnis hatte, dass sie in die Dusche steigen musste. Sie war Alice Howland, Alzheimer-Opfer.
    Ihre Energie war verbraucht, ohne Reserven, auf die sie zurückgreifen konnte, ihre Euphorie war verschwunden, ihreErinnerung an ihren Sieg und ihr Selbstvertrauen waren ihr geraubt, und nun litt sie unter überwältigender Erschöpfung. Sie schlief lange und blieb nach dem Aufwachen noch stundenlang im Bett liegen. Sie saß auf der Couch und weinte ohne bestimmten Grund. Selbst noch so viel Schlaf oder Tränen konnte ihre Energiespeicher nicht wieder auffüllen.
    John weckte sie aus dem Tiefschlaf und zog sie an. Sie ließ es geschehen. Er sagte ihr nicht, sie solle sich kämmen und sich die Zähne putzen. Es war ihr egal. Er brachte sie in aller Eile zum Wagen. Sie drückte die Stirn gegen die kalte Scheibe. Die Welt draußen sah bläulich grau aus. Sie wusste nicht, wohin sie fuhren. Es war ihr zu gleichgültig, um danach zu fragen.
    John fuhr in ein Parkhaus. Sie stiegen aus und traten durch eine Tür in der Garage in ein Gebäude. Das weiße Neonlicht schmerzte in ihren Augen. Die weiten Flure, die Aufzüge, die Schilder an den Wänden – Radiologie, Chirurgie, Geburtshilfe, Neurologie. Neurologie .
    Sie betraten einen Raum. Statt des Wartezimmers, mit dem sie gerechnet hatte, sah sie eine Frau, die in einem Bett lag und schlief. Ihre verquollenen Augen waren geschlossen, und ein Infusionsschlauch war an ihrer Hand

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