Mein Leben Ohne Gestern
kicherte.
»Wenn alle meine Patienten so schlau wären wie Sie, dann wäre ich bald pleite.«
»Alice, den kannst du nicht behalten, du hast gesehen, wie er hingesehen hat«, sagte John.
»Ich habe ihn gewonnen«, sagte Alice.
»Es ist schon gut, sie hat ihn gefunden«, sagte Dr. Davis.
»Sollte sie in einem solchen Zustand sein, nach nur einem Jahr und medikamentöser Behandlung?«, fragte John.
»Nun ja, wir haben es hier vermutlich mit einer ganzen Reihe von Dingen zu tun. Ihre Krankheit ist vermutlich lange vor der Diagnose im letzten Januar ausgebrochen. Sie beide, Ihre Familie und Alice’ Kollegen haben etliche Symptome wahrscheinlich als zufällig oder normal abgetan und sie auf Stress, Schlafmangel, übermäßiges Trinken oder ähnliches zurückgeführt. Das kann leicht ein, zwei Jahre oder sogar noch länger so gegangen sein.
Und sie ist überdurchschnittlich intelligent. Wo ein durchschnittlicher Mensch, sagen wir der Einfachheit halber, zehn Synapsen hat, die zu einer bestimmten Information führen,könnte Alice leicht fünfzig haben. Wenn ein durchschnittlicher Mensch diese zehn Synapsen verliert, dann ist ihm diese Information nicht mehr zugänglich, sie wird vergessen. Aber Alice kann diese zehn verlieren und hat dann immer noch vierzig andere Möglichkeiten, um ans Ziel zu kommen. Das heißt, ihre anatomischen Verluste sind anfangs noch nicht so schwer und funktional auffällig gewesen.«
»Aber inzwischen hat sie doch schon weitaus mehr als zehn verloren«, sagte John.
»Ja, leider. Ihr Kurzzeitgedächtnis gehört inzwischen zu den untersten drei Prozent derjenigen, die die Tests noch machen können, aber ihre Sprachverarbeitung hat sich deutlich verschlechtert, und sie verliert allmählich ihre Selbstwahrnehmung – alles so, wie wir es bedauerlicherweise erwarten würden. Aber sie ist auch unglaublich einfallsreich. Sie hat heute eine ganze Reihe geschickter Strategien angewandt, um Fragen richtig zu beantworten, an die sie sich nicht mehr richtig erinnern konnte.«
»Aber trotzdem gab es auch viele Fragen, die sie nicht richtig beantworten konnte«, sagte John.
»Ja, das stimmt.«
»Ihr Zustand verschlimmert sich einfach so schnell. Können wir die Dosis für das Aricept oder das Namenda denn nicht erhöhen?«, fragte John.
»Nein, sie bekommt von beidem bereits die Höchstdosis. Bedauerlicherweise haben wir es hier mit einer fortschreitenden degenerativen Krankheit zu tun, für die es keine Heilung gibt. Sie verschlimmert sich trotz aller Medikamente, die wir im Augenblick zur Verfügung haben.«
»Und es ist klar, dass sie entweder das Placebo bekommt oder dass dieses Amylex-Medikament nicht wirkt«, sagte John.
Dr. Davis schwieg einen Augenblick, als dächte er darüber nach, ob er dem zustimmen sollte oder nicht.
»Ich weiß, dass Sie enttäuscht sind. Aber ich habe auchschon Fälle gesehen, wo die Krankheit unerwartet eine Ebene der Stabilisierung erreicht, wo sie zu stagnieren scheint, und das kann eine ganze Weile anhalten.«
Alice schloss die Augen und stellte sich vor, wie sie mit beiden Beinen fest inmitten einer Ebene stand. Auf einem herrlichen Hochplateau. Sie konnte es sehen, und es lohnte sich, darauf zu hoffen. Konnte John es sehen? Konnte er noch für sie hoffen, oder hatte er schon aufgegeben? Oder noch schlimmer, hoffte er vielleicht sogar auf ihren raschen Verfall, damit er sie, geistesabwesend und gefügig, im Herbst mit nach New York nehmen konnte? Würde er sich entscheiden, mit ihr auf dieser Ebene zu stehen, oder sie den Hügel hinunterstoßen?
Sie verschränkte die Arme, stellte ihre überkreuzten Beine nebeneinander und setzte die Füße auf den Boden.
»Alice, gehen Sie immer noch laufen?«, fragte Dr. Davis.
»Nein, ich habe vor einer Weile damit aufgehört. Wegen Johns Terminkalender und meiner mangelhaften Koordination – ich kann Bordsteinkanten oder Bodenschwellen auf der Straße nicht erkennen, und ich schätze Entfernungen falsch ein. Ein paarmal bin ich schrecklich gestürzt. Selbst zu Hause vergesse ich diese ganzen erhöhten Dingsdas unten am Türrahmen, und ich stolpere jedes Mal, wenn ich in ein Zimmer gehe. Ich habe jede Menge blaue Flecken.«
»Okay, John, Sie sollten entweder diese erhöhten Dingsdas unten am Türrahmen entfernen oder sie in einer kontrastreichen Farbe streichen, irgendetwas Leuchtendes, oder sie mit leuchtendem Klebeband markieren, damit Alice sie sehen kann. Andernfalls sind sie vom Boden einfach nicht zu
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