Mein Leben Ohne Gestern
hatte ihr gesagt, über siebenhundert Leute hätten sich für die Konferenz angemeldet. Alice hatte schon oft vor so großen und noch größeren Gruppen gesprochen. Zu den Zuhörern bei ihren Ansprachen gehörten hoch angesehene Professoren der Ivy-League-Universitäten, Nobelpreisträger und die führenden Denker der Welt auf dem Gebiet der Psychologie und Sprache.
Heute saß John in der vordersten Reihe. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick über seine Schulter, während er sein Programmheft immer wieder zu einer festen Röhre zusammenrollte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er sein Lucky-Gray-T-Shirt trug. Im Allgemeinen trug er es nur an den kritischsten Labortagen, an denen er mit einem entscheidenden Ergebnis rechnete. Sie lächelte über seine abergläubische Geste.
Anna, Charlie und Tom saßen neben ihm und unterhielten sich. Ein paar Plätze weiter saßen Mary, Cathy und Dan mit ihren Ehepartnern. Vorn in der Mitte saß Dr. Davis, Stift undNotizblock bereit. Hinter ihnen saß ein Meer von Fachleuten aus dem Gesundheitswesen, die sich der Pflege von Demenzkranken widmeten. Es war vielleicht nicht ihr größtes oder renommiertestes Publikum, aber von allen Vorträgen, die sie in ihrem Leben gehalten hatte, würde dieser, so hoffte sie, die nachhaltigste Wirkung haben.
Sie glitt mit den Fingern immer wieder über die glatten, mit Edelsteinen besetzten Flügel ihrer Schmetterlingskette, die auf dem knubbeligen oberen Ende ihres Brustbeins lag. Sie räusperte sich. Sie nahm einen Schluck Wasser. Sie berührte die Schmetterlingsflügel ein letztes Mal, als Glücksbringer. Heute ist ein besonderer Anlass, Mom .
»Guten Morgen. Mein Name ist Dr. Alice Howland. Ich bin allerdings weder Neurologin noch Allgemeinärztin. Ich habe meinen Doktortitel in Psychologie. Ich war fünfundzwanzig Jahre lang Professorin an der Harvard-Universität. Ich habe kognitive Psychologie gelehrt, ich habe auf dem Gebiet der Linguistik geforscht, und ich habe auf der ganzen Welt Vorträge gehalten.
Heute bin ich jedoch nicht hier, um als Expertin für Psychologie oder Sprache zu Ihnen zu sprechen. Ich bin heute hier, um als Expertin für die Alzheimer-Krankheit zu Ihnen zu sprechen. Ich behandle keine Patienten, führe keine klinischen Versuche durch, untersuche keine DNA-Mutationen und berate keine Patienten mit ihren Familien. Ich bin eine Expertin zu diesem Thema, weil bei mir vor etwas über einem Jahr die früh einsetzende Alzheimer-Krankheit diagnostiziert wurde.
Ich fühle mich geehrt, diese Gelegenheit zu haben, heute zu Ihnen zu sprechen und Ihnen, wie ich hoffe, einen Einblick davon zu vermitteln, wie es ist, mit Demenz zu leben. Bald, auch wenn ich dann immer noch wissen werde, wie es ist, werde ich nicht mehr imstande sein, es Ihnen gegenüber auszudrücken. Und irgendwann, in nicht allzu langer Zeit, werde ich nichteinmal mehr wissen, dass ich Demenz habe. Daher kommt das, was ich heute zu sagen habe, genau zur rechten Zeit.
Wir im Frühstadium der Alzheimer-Krankheit sind noch nicht völlig inkompetent. Wir sind nicht ohne Sprache oder Meinungen, die zählen, oder längere Phasen der Klarheit. Und doch sind wir nicht mehr kompetent genug, um vielen Anforderungen und Aufgaben unseres einstigen Lebens zuverlässig gerecht zu werden. Wir haben das Gefühl, weder hier noch da zu sein, wie eine verrückte Dr.-Seuss-Figur in einem bizarren Land. Es ist ein sehr einsamer und frustrierender Ort.
Ich arbeite nicht mehr in Harvard. Ich lese und schreibe keine Forschungsartikel oder Bücher mehr. Meine Realität ist völlig anders als das, was sie vor nicht allzu langer Zeit noch war. Und sie ist verzerrt. Die Nervenbahnen, mit deren Hilfe ich zu verstehen versuche, was Sie sagen, was ich denke und was um mich herum geschieht, sind mit Amyloid verklebt. Ich ringe mit den Worten, die ich sagen will, und höre mich oft die falschen sagen. Ich kann räumliche Entfernungen nicht zuverlässig einschätzen, und das bedeutet, dass ich oft Dinge fallen lasse oder stürze oder mich zwei Blocks von meinem Haus entfernt verlaufe. Und mein Kurzzeitgedächtnis hängt nur noch an ein paar dünnen Fäden.
Ich verliere mein Gestern. Wenn Sie mich fragen, was ich gestern getan habe, was passiert ist, was ich gesehen und gefühlt und gehört habe, dann würde es mir schwerfallen, es Ihnen im Detail zu berichten. Ein paar Dinge könnte ich vielleicht richtig raten. Ich kann sehr gut raten. Aber ich weiß es nicht wirklich. An das Gestern oder das
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