Mein Leben ohne Limits
TRAUER
Ich war das erste Kind meiner Eltern. Normalerweise ist das ein großer Anlass zur Freude, aber niemand schickte meiner Mutter Blumen. Sie fühlte sich verletzt und war noch mehr verzweifelt.
Mit Tränen in den Augen fragte sie meinen Vater: „Habe ich denn keine Blumen verdient?“
„Tut mir leid“, antwortete er. „Natürlich hast du das.“ Er verschwand und tauchte kurz darauf mit einem Blumenstrauß aus dem krankenhauseigenen Blumengeschäft auf.
Von alledem habe ich nichts gewusst, bis ich ungefähr dreizehn war. Damals stellte ich zum ersten Mal die Frage nach meiner Geburt und den ersten Reaktionen meiner Eltern auf die fehlenden Gliedmaßen. An diesem Tag war es fürchterlich in der Schule gewesen. Mom weinte mit mir. Ich erzählte ihr, dass ich die Nase voll davon hatte, ohne Arme und Beine leben zu müssen. Sie versuchte, mich zu trösten. Gott habe mit mir bestimmt etwas ganz Besonderes vor. Und eines Tages würden wir erkennen, was das ist.
Im Lauf der Zeit wollte ich immer mehr Details wissen. Manchmal war bei den Gesprächen nur ein Elternteil dabei, manchmal auch beide. Auf der einen Seite war ich selbst einfach neugierig, auf der anderen Seite löcherten mich meine Klassenkameraden mit Fragen.
Zunächst hatte ich Angst vor dem, was mir meine Eltern sagen würden. Ich spürte, dass es ihnen nicht leichtfiel, darüber zu reden, und wollte sie ja nicht in Verlegenheit bringen. Am Anfang zögerten sie, konkret zu werden, und versuchten nur, mich zu beruhigen. Aber als ich älter wurde und hartnäckiger fragte, öffneten sie sich und redeten auch über ihre Gefühle und Ängste. Sie wussten, dass ich nun besser damit umgehen konnte. Und trotzdem: Als Mom mir beichtete, dass sie mich am Anfang nicht in ihrer Nähe haben wollte, war das ein schwerer Schlag – gelinde gesagt. Ich war schon so unsicher genug. Und nun zu hören, dass meine eigene Mutter meinen Anblick nicht ertragen konnte, war … Na ja, wie würdest du dich fühlen? Ich war sehr verletzt und fühlte mich ungeliebt. Etwas später musste ich aber an alles denken, was meine Eltern schon für mich getan hatten. Unzählige Male hatten sie mir ihre Liebe bewiesen. Zum Glück war ich zum Zeitpunkt dieser Unterhaltung schon alt genug, um mich in sie hineinversetzen zu können. Abgesehen von der eigenartigen Vorahnung meiner Mutter hatte es während der Schwangerschaft keinerlei Anzeichen gegeben. Dementsprechend schockiert und verstört waren sie nach der Geburt. Wie hätte ich als Vater reagiert? Ich bin nicht sicher, ob ich mich so gut zusammengerissen hätte. Das habe ich meinen Eltern so gesagt. Im Lauf der Zeit haben wir dann immer offener über dieses Thema reden können.
Heute bin ich froh, dass wir so lange damit gewartet haben, bis mir im Grunde meines Herzens wirklich klar war, dass meine Eltern mich liebten. Seit dieser Zeit gehen wir sehr offen miteinander um, was unsere Gefühle und Ängste betrifft. Inzwischen verstehe ich auch, wie ihnen der Glaube geholfen hat. Sie haben darauf vertraut, dass Gott für mich einen Platz hat.
Ich war ein extrem willensstarkes und fröhliches Kind. Lehrer, andere Eltern und sogar fremde Leute ließen meine Eltern wissen, dass meine positive Lebenseinstellung sie faszinierte. Ich für meinen Teil begriff irgendwann, dass trotz meiner großen Einschränkungen andere Menschen noch schlimmer dran waren als ich. Wenn ich heute um die Welt reise, bin ich angesichts des großen Leids überall dankbar für das, was ich habe. Und konzentriere mich weniger auf das, was mir fehlt.
Ich habe Waisenkinder mit schrecklichen Krankheiten gesehen. Junge Frauen, die sexuell versklavt werden. Arme Männer, denen man wegen einer lächerlichen Schuld die Freiheit raubt. Leid ist überall und oft unglaublich grausam. Aber sogar in den dreckigsten Slums und nach den schlimmsten Katastrophen bin ich überrascht, wie Menschen nicht nur überleben, sondern selbst unter widrigsten Bedingungen Gründe finden, sich zu freuen. Freude war nun wirklich das Allerletzte, was ich beispielsweise in der Müllstadt „Garbage City“, dem schlimmsten Elendsviertel am Rand der Hauptstadt Ägyptens, erwartet hätte. Der Stadtteil Manschiyyet Nasser liegt am Fuße eines großen Felsens. Seinen traurigen, aber passenden Namen und den widerlichen Gestank hat das Viertel wegen des Mülls, den seine fast fünfzigtausend Einwohner aus ganz Kairo hierherschleppen und durchwühlen. Müll ist wirtschaftliche Grundlage der Leute von
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