Mein Name war Judas
nichts als ein Naturereignis, zu keinem Zeitpunkt hatte ich Grund, es als etwas anderes zu betrachten. Falls Gott existierte und mir etwas sagen wollte, würde Er sich bequemen müssen, es direkt zu tun. Ich würde sogar zuhören. Ich versuchte ja sogar zuzuhören, wenn Er nichts sagte. Nie würde ich jedoch behaupten, ich hörte Seine Stimme im tiefsten Schweigen oder im plötzlichen Brand eines Ochsenkarrens.
Dennoch ist die Welt voller Mysterien. Warum ist das Leben, wie es ist – so erstrebenswert, so reich, so fehlerhaft, so widersprüchlich, so schmerzhaft? Warum endet es mit dem Tod, und warum glauben wir, danach komme noch etwas, obwohl nichts als unbewiesene Prophetenworte und alte Schriften dafür sprechen? Was ist »da draußen«, zwischen und hinter den Sternen?
Nicht diese Mysterien negierten wir, sondern die Erklärungen, die uns dafür aufgetischt wurden – erfundene Geschichten, die dazu dienen sollten, Kinder zu beruhigen oder einzuschüchtern. Wir aber waren Männer mit Verstand, die das Verborgene nicht fürchteten. Es gab schon genug zu fürchten, Sichtbares und Spürbares. Da bedurfte es keiner weiteren Einschüchterung durch Imaginiertes, Unsichtbares und nicht Spürbares. Mein Leben lang hatte ich meine Mitmenschen gefürchtet (und nicht nur den römischen Statthalter, obwohl ich den am meisten fürchtete), wilde Tiere, plötzliche Stürme, Dürren und Hungersnöte, Krankheiten und Missgeschicke meiner Kinder. Und den Tod natürlich. Das waren genug Ängste für einen einzelnen Mann, und ich war entschlossen, mir keine weiteren aufzubürden – es sei denn, die Vernunft gebot es.
Ich hatte Götter, Geister und Dämonen aus meinem Denken verbannt. Sollten sie eines Tages zurückkehren, würde ich mich mit ihnen befassen, aber es hatte ganz den Anschein, als akzeptierten sie ihre Verbannung – vorerst.
Das alles klingt einfacher, als es ist. Wenn ein Kind erkrankt, wird der liebende Vater natürlich niederknien und beten. Wenn das Kind dann stirbt, so wie zwei meiner Kinder, wird er sein Gewissen erforschen und nach eigenen Fehlern suchen, die dieses Unglück heraufbeschworen haben. Wenn mich eine todbringende Krankheit ereilt, werde ich beten. Aber nicht für etwas, nicht einmal für meine Genesung. Ich werde nur beten.
»Bitte …«
»Bitte was?«, fragt der große Gott dann vielleicht, sollte Er mich hören. Um was kann ich dann bitten, ich, der ich im Sterben liege? »Bitte« genügt also. Ich weiß, es ist nicht immer leicht, Vernunft walten zu lassen, aber man sollte sich stets darum bemühen.
Unsere Vereinbarung einzuhalten und den Aberglauben und die Fantasien unserer Kindheit abzulegen fiel Theseus leichter als mir. Doch auch er war mit Göttern und Dämonen aufgewachsen, an Gebote und tradierte Vorstellungen von Schuld und Sühne gewöhnt. Ich weiß, dass er bis heute kaum der Versuchung widerstehen kann, die Sterne nach seiner Zukunft zu befragen. Und manchmal, wenn wir fischen gehen, sehe ich, wie er die Lippen bewegt; dann weiß ich, dass er einen griechischen Gott anruft, vielleicht mit der Bitte um einen guten Fang, vielleicht mit der Bitte, keinen Sturm aufziehen zu lassen. Dennoch hatte er es leichter als ich, Vernunft und Skepsis walten zu lassen. Als gebildeter Grieche war er in andere Traditionen eingebettet als ich, der Jude. Oft brauchte ich seine Hilfe, und er hat sie mir über Jahrzehnte gewährt. Ich habe ihm viel zu verdanken.
Vor vierzig Jahren bin ich an diesen Küstenort südlich von Sidon umgesiedelt, um Judäa, Jerusalem und alles, was dort geschehen war, hinter mir zu lassen. Und das, was meine Heimat und die Heilige Stadt, wie wir sie nannten, mittlerweile repräsentierten. Ich wollte meiner Kindheit, meiner Abstammung, meiner Religion, meinen Irrungen entfliehen, meiner ganzen Vergangenheit, um noch einmal von vorn anzufangen, eigene Geschichte noch einmal zu durchleben und für sie vielleicht einen guten Schluss zu finden.
Wie mein Vater wurde ich Kaufmann, hauptsächlich handle ich mit Olivenöl, Datteln, Balsam und Salz, bei guter Ernte auch mit Weizen und Gerste. Ich wurde wohlhabend, heiratete (es war meine zweite Ehe; meine erste Frau starb in Galiläa, als ich erst Anfang zwanzig war). Heute sind meine Kinder, zwei Söhne und drei Töchter, erwachsen, und ich bin vielfacher Großvater. Ich bin siebzig, und die Psalmen besagen, dass der Mensch kaum älter werden kann.
Nie hätte ich gedacht, so lange zu leben, und seit meinem letzten
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