Mein Name war Judas
Schriften Schönheit und Trost, für ihn aber war sie ein Machtvehikel.
Wir wurden also Freunde. Obwohl er später oft die Nähe und sogar Jüngerschaft von Männern mit – um es milde zu formulieren – durchschnittlicher Intelligenz suchte, war er als Kind scharfsinnig, konkurrenzbewusst, ungeduldig und schnell gelangweilt. Wäre ich so stumpfsinnig und langweilig gewesen, wie Thaddäus es unserer Meinung nach war, hätte Jesus sich niemals für mich interessiert. Dass ich besseres Spielzeug hatte als er und in einem schönen Haus wohnte, spielte dabei keine Rolle. Derlei sprach in seinen Augen eher gegen mich, aber er sah darüber hinweg, weil ich ihm geistig gewachsen, wenn nicht gar ebenbürtig war.
Besondere Freude machten uns mentale Übungen, die wir selbst erfanden. Unter anderem versuchten wir, uns wortlos zu verständigen, dem anderen also Gedanken mitzuteilen, ohne etwas zu sagen. Einer von uns konzentrierte sich etwa auf eine Farbe, eine Zahl zwischen eins und zwanzig oder ein Tier und versuchte, diesen Gedanken dem anderen zu schicken, der sich ebenfalls konzentrierte, die Augen geschlossen hielt und den Gedanken zu empfangen versuchte. Wir führten Buch darüber, wie oft eine Gedankenübertragung klappte, und verglichen die Anzahl geglückter Versuche mit der Wahrscheinlichkeit eines Treffers (im Falle der Zahlen natürlich 1:20), um zu prüfen, ob unsere Erfolge reiner Zufall waren. Dabei stellte sich heraus, dass unsere Erfolgsrate weit über der numerischen Wahrscheinlichkeit lag, und so glaubten wir, auf dem besten Wege zur Beherrschung der Gedankenübertragung zu sein.
Da wir einander geistig so eng verbunden waren, unternahmen wir auch sonst allerlei, womit Jungen gemeinhin den Tag verbringen. Wir durchstreiften die Gegend, lieferten einander Ringkämpfe und spielten in den Kornfeldern Verstecken. Wir erforschten Höhlen und erklommen Berge, wobei wir oft aufgaben oder uns verletzten, und Schimpftiraden und Strafen über uns ergehen lassen mussten, wenn wir uns wieder mal zu weit oder zu lange von zu Hause entfernt hatten. Wenn es heiß war, badeten wir in dem Fluss, der unser Tal durchströmt. Wie es sich für Jungen gehört, wurden wir Experten im Steinewerfen. In der Handhabung von Steinschleudern war ich Jesus mindestens ebenbürtig, wenn nicht überlegen, dafür hatte er den stärkeren oder geschickteren Wurfarm. Wir waren etwa gleich groß und gleich stark, aber beim Werfen verdrehte er sein Handgelenk unmittelbar vorm Abwurf auf eine Art, die ihm erlaubte, weiter zu werfen als ich. Auch sein Augenmaß war phänomenal. Ich habe gesehen, wie er einen kleinen Vogel traf, der in hundert Schritt Entfernung auf einem Baum saß.
Manchmal besuchte ich ihn zu Hause. Zusammen mit seinen Eltern und vier oder fünf jüngeren Brüdern und Schwestern wohnte er in einer engen Gasse in einem kleinen Haus mit Flachdach. Es war ein ärmlicher Haushalt, zu wenig Platz für zu viele Menschen – mit meinem Zuhause überhaupt nicht zu vergleichen. Es roch nach Essen, Körperausdünstungen und einem oder zwei Hunden. Der Vater von Jesus, Josef, war ein stämmiger, ruhiger Mann mit einem warmen Lächeln. Wenn er gerade nicht arbeitete, setzte er sich gern auf das Dach oder mit einem Stuhl auf die Straße und spielte auf einer Rohrflöte. Er hat nie viel geredet und schien sich klaglos seiner Frau unterzuordnen.
Jesu Mutter, Maria, war eine schlanke, aber starke Frau, die ihre Dominanz hinter einem schicklichen Auftreten verbarg. Sie tat jedoch nur so, als sei sie folgsam und bescheiden, wenn sie ihren Mann behandelte, wie es sich gehörte. Sie ließ ihn zuerst essen und griff selber erst zu, wenn er fertig war. Auf den ersten Blick war sie keineswegs »anders«. Und doch wurde man das Gefühl nicht los, dass sie auf eine merkwürdige Art die wahre Herrin im Haus war.
Wenn sie mich auf der Straße sah, packte sie mich an den Oberarmen, starrte mir ins Gesicht und sagte, was für ein »netter kleiner Bursche« ich sei. Sie hatte auffallend wässrige Augen, und wenn man ihr nahekam, sah es aus, als blickte man einer Wasserleiche ins Antlitz. »Jesu kleiner Freund ist hier«, rief sie, ob es jemand hören wollte oder nicht, wenn ich zu Besuch kam. »Wie geht es dir, Judas? Du siehst heute ganz reizend aus, mein Kleiner. Ist heute nicht ein schöner Tag? Wo hat deine Mutter bloß dieses schöne Hemd aufgetrieben? Oder hat sie es selbst genäht? Nein, natürlich nicht, so etwas macht bei euch ja die
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