Mein russisches Abenteuer
verblasste. Ich war in einem
merkwürdigen Grenzzustand, todmüde und hellwach zugleich, erschöpft von der
Wanderung, elektrisiert von der Ankunft. Beim Gehen spürte ich kaum noch den
Rucksack, alles fühlte sich seltsam leicht an, als sei die Welt, in der ich
gelandet war, nicht ganz wirklich. Agafja ging vor mir her, so nah, dass ich
die unregelmäßigen Nähte in ihrem Kleid erkennen konnte, den Schmutz unter
ihren Fingernägeln, die Scharten ihres Beils. Ich prägte mir jedes Detail mit
der Nervosität eines Träumenden ein, der weiß, dass er jeden Moment aufwachen
kann.
Nur halb hörte ich Ljonja zu, als er mir den Namen eines schmaleren
Nebenflusses nannte, der kurz hinter der Fischreuse in den Abakan mündete: der
Jerinat. An seinem Ufer gingen wir weiter, bis neben uns plötzlich der Wald
aufriss. Eine Lichtung zog sich den Berghang hinauf. Auf halber Höhe standen
drei kleine Holzhäuser, darüber waren die Furchen eines Kartoffelackers zu
erkennen.
In der ältesten, halb verfallenen Holzhütte hatte Agafja bis zum Tod
ihres Vaters gelebt. Die beiden anderen waren erkennbar neuer, Ljonja und seine
Waldschutzkollegen hatten sie gebaut. In der linken wohnte Agafja. In der
rechten lud Ljonja unsere Rucksäcke ab.
Ich packte meine mitgebrachten Geschenke aus: das Kopftuch von
Doktor Nasarow, den Brief von Agafjas Cousinen aus Kilinsk, das Glas mit dem
selbst gepressten Sonnenblumenöl, eine Wolldecke, die ich als Mitbringsel
gekauft hatte, zuletzt den Brief von Galina, der Linguistin. Lächelnd wendete
Agafja alle Gegenstände in den Händen, als wäge sie ihre religiöse
Unbedenklichkeit ab. Am Ende legte sie das Kopftuch, die Wolldecke und das
Sonnenblumenöl auf einem Holzstoß vor ihrer Hütte ab. Nur die Briefe nahm sie
mit ins Innere.
Zwischen den Häusern brannte ein Lagerfeuer. Eine Pfanne voller
Fische briet über den Flammen. Während ich mich noch fragte, wer sie aufs Feuer
gesetzt hatte, stand plötzlich ein sehr kleiner Mann mit einem sehr langen Bart
vor mir. Er reichte mir die Hand. »Alexej.« Die hohe Stimme passte nicht zu
seinem Bart.
Alexej war ein entfernter Verwandter von Agafja. Er besuchte sie
jedes Jahr um diese Zeit, meist blieb er ein paar Wochen, um ihr bei den
Wintervorbereitungen zu helfen. Er kam aus einer Altgläubigengemeinde im
Altai-Gebirge. Wie sich herausstellte, war es ein Nachbarort von Kilinsk, dem
Dorf, in dem ich Agafjas Cousinen getroffen hatte.
Wir konnten uns nicht lange unterhalten. Als Ljonja zurückkam,
packte er mich fürsorglich am Arm und schob mich in Agafjas Hütte. »Hier,
Karpowna! Erzähl ihm deine Geschichten! Der Mann ist extra aus Deutschland
angereist!«
Ich weiß nicht mehr, wie lange sie in jener ersten Nacht sprach –
zwei Stunden, drei, vielleicht vier? Vor dem winzigen Fenster der Hütte wurde
es schnell dunkel, nur noch der Mond warf ein blaues Lichttrapez auf den Boden,
sonst gab es keinen Anhaltspunkt mehr, an dem ich die Zeit hätte messen können.
Selbst Agafja verschwand halb in der Nacht, ich sah nur noch die linke, dem
Fenster zugewandte Seite ihres Gesichts. Die schmale Schlafpritsche, auf der
sie saß, war überhäuft mit durcheinandergewürfeltem Hausrat, den ich im Dunkeln
nur erahnen konnte – Stoffreste, Körbe aus Birkenrinde, eine Blechwanne,
Bücher, der Lauf eines Gewehrs. Ich fragte mich, wo Agafja schlief. Ich fragte
mich, ob sie überhaupt schlief.
Das Chaos wucherte über die Bettkanten, es füllte die gesamte Hütte.
Der Boden war übersät mit Brennholzscheiten, Arbeitswerkzeugen, Körben voller
keimender Kartoffeln. Auf einem Wandbrett türmte sich Nähzeug, dahinter lehnten
drei große Ikonen an der Wand, unkenntlich in der Dunkelheit. Unter der
niedrigen Decke trockneten Kräuter, verbeultes Kochgeschirr stapelte sich neben
einem riesigen Lehmofen, der gut ein Drittel der Hütte einnahm. Ich konnte die
schmatzenden Kaugeräusche zweier Ziegen hören, die in einem winzigen
Holzverschlag neben dem Ofen lebten. Ihr penetranter Gestank zog die Insekten
an. Es war die Jahreszeit der Moschki, jener winzigen sibirischen Fliegen, vor
deren Bissen man mich in Abasa gewarnt hatte. Die Hütte war voll von ihnen, sie
zerfraßen mir die Hände, während ich versuchte, Agafjas gesungene Sätze
nachtblind in meinen Notizblock zu übersetzen. Das Einzige, was ich am nächsten
Morgen noch deutlich entziffern konnte, war die Zahl 7453, Agafjas Geburtsjahr,
gerechnet nach dem alten byzantinischen Kirchenkalender.
»… das
Weitere Kostenlose Bücher