Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
dem anderen. Alles in ihm kommt zur Ruhe.
Freunde, Begebenheiten, Gesprächsfetzen tauchen auf, verschwinden wieder. Das Lachen von Schwester Katharina, Sylvias Blumendünger, Karls Parfum. Schließlich Johanna und ihre Frage nach seinem Schutzengel! Wenn ich einen habe, schießt ihm durch den Kopf, dann steht er gerade mit dem Rücken zu mir auf dem Balkon
und sieht den beiden Mechanikern im Innenhof zu, wie sie, heftigst streitend, dennoch einträchtig einen uralten Opel zerlegen.
Er weint viel während der ganzen Stunde, schluchzt und schüttelt sich. Doch das ist nur außen.
Nach der Behandlung schenkt Waltraudis dem wortkargen Max ein Stofftaschentuch und lässt ihn ziehen, ohne in ihn zu dringen, ob er nun klarer und leichter wäre. Wenn ihm danach wäre, könnte er sie ja anrufen.
Wieder auf der Straße, steht für ihn fest, dass er sofort ans Wasser muss. Also rollt er zur S-Bahn, um an den Ammersee zu fahren, bis in die Haarspitzen ausgefüllt mit einem Gefühl von jugendlichem Was-kostet-die-Welt, das er schon lange verloren geglaubt hat.
Kaum ist er an der Hackerbrücke, fährt die richtige S-Bahn ein. Er bleibt an der Tür stehen: Draußen zieht die vom Spätsommer vergoldete Landschaft vorbei. Sanfte Hügel und Wälder, in die der Herbst erste Skizzen gezeichnet hat. An der Endstation hat Max die Spalte zum Bahnsteig noch gar nicht bemerkt, da heben ihn zwei Burschen auch schon mit dem Rollstuhl hinunter.
Mich hat die Liebe ganz verwundet.
Mehrfach schießt ihm der Satz durch den Kopf. Er stammt von seinem Lieblingsheiligen: Filippo Neri, der Prophet der Freude, Schutzheiliger Roms. Vor sich den funkelnden See, beschließt Max, noch an diesem Abend mit dem Roman über Neri zu beginnen, den er seit Jahren mit sich herumträgt. Über diesen Menschenfänger mit dem übergroßen Herzen, der auf seinem Sterbebett voller Vertrauen in den nächsten Tag sagte: » Morgen werde ich mein Leben ändern.«
36.
An der Seite eines Menschen vergeht die Zeit rasend schnell: kurz vor Weihnachten, ein Jahr später.
Max kann nur noch wenige Schritte gehen. So bald wie möglich muss er umziehen. Die beiden Stufen vor der Wohnung schränken ihn zu sehr ein, selbst der Weg zur Haustür ist manchmal zu weit. An solchen Tagen überlegt er hin und her, ob er wirklich nach draußen muss, bis der Lagerkoller ihm die Entscheidung abnimmt und ihn trotz Sturzgefahr bis zur Tür treibt. In der steht er dann und bangt, dass ein Passant vorbeikommt, um ihm mit dem zusammengeklappten Rollstuhl zu helfen.
An besonders schlimmen Tagen aber, und diese nehmen zu, ist er selbst in der Wohnung überfordert, weil er nicht weiß, wie er eine Teetasse von der Spüle zu dem ein Meter entfernten Tisch bringen soll. Fällt er hin, ist er unfähig wieder hochzukommen. Die nächtlichen Spastiken sind häufig so stark, dass er die verkrampften Beine nicht aus dem Bett bringt. Mehr und mehr solcher Tage verbringt er komplett im Rollstuhl. Selbst die paar Schritte zu einem Taxi, die er irgendwie mit Krücken bewältigen würde, meidet er. Jahrelang hat er sich täglich bis an seine Grenzen gequält, oft genug darüber hinaus. Nun hat er mit dem Gehen abgeschlossen, ohne Wehmut.
Seine Leber hat Max vergessen, auch die Behandlung bei Karl ist wegen dessen Praxis im ersten Stock eingeschlafen. Und trotz seines Versprechens hat er auch Waltraudis nie wieder angerufen.
Immerhin, er betet jeden Abend und macht am Morgen seine Qi-Gong-Übungen. Manchmal wie lästige Hausaufgaben, dann wieder mit jäh aufflammender Euphorie – aber er hält daran fest. Und fährt nach einem dreiviertel Jahr Pause wieder regelmäßig zu Charlotte, um sich auf ihre Feldenkrais-Liege zu legen.
Auf die Frage nach seinem Wohlergehen antwortet er nicht mehr » eigentlich ganz gut«, sondern kurz angebunden mit: » Passt schon.«
Max sieht aus dem Fenster in einen graukalten Dezemberhimmel.
Hoffentlich schneit es nicht wieder, sonst käme er überhaupt nicht mehr heraus. In einer Woche wird Toms Chor ein Konzert geben, Max hat schon für freie Straßen gebetet – und sich unmittelbar darauf geniert, weil er sich vorkam wie seine eigene Großmutter. Das Weihnachtsoratorium von Bach steht auf dem Programm. Sylvias Lieblingsstück, wie sie ihm gestern schrieb. Sie könne ihn nur leider nicht begleiten, da sie noch einen Monat in der Schweiz bei ihrem Heiler und Geliebten bleiben würde.
Es ist kurz vor drei. Gleich gibt es kein Zurück mehr.
Plötzlich bekommt Max
Weitere Kostenlose Bücher