Mein schwacher Wille geschehe
Avantgardisten der time-space-compression, die sich im ICE zwischen den verschiedenen Arbeitsorten und der Heimatadresse bewegen, die vor der Minibar im Hotelzimmer in plötzliche Depression geraten und die kein aufgebackenes Croissant zum Business-Frühstück mehr sehen können, ein Gefühl des Driftens auszubreiten. Wer im Dienste seiner allseitigen Anschlussfähigkeit alle Kleider des Kollektiven abgestreift hat, sieht sich in Momenten der Unterbrechung und des Übergangs auf die transzendentale Obdachlosigkeit der eigenen Biografie zurückgeworfen. Sie sollen das Leitbild für die totale Mobilisierung der Arbeitsvermögen darstellen, und fühlen sich selbst in ihrer Haut nicht wohl und in ihrer sozialen Position alles andere als gesichert.«
In der Multioptionsgesellschaft, in der man nicht nur alles wählen kann sondern auch wählen muss, kommt die Seele bisweilen ins Stocken. Wo gefördert und gefordert wird, kann es auch zu Aussetzern kommen. Zur Beschreibung der eigenen Lebensspannung benutzt man für gewöhnlich das Wort »Stress«, und von der Überforderung der anderen ist allzu schnell die Rede, wenn dies und das in der eng getakteten Alltagsorganisation nicht klappen wollen. Tatsächlich begegnen einem im gewöhnlichen Konsumentenalltag fortwährend Leute, die an der ihnen anvertrauten Technik scheitern oder des Gestus der Dienstleistung gänzlich entwöhnt sind.
Das Eingeständnis eigener Überforderung fällt da schon schwerer. Auf besonders anschauliche Weise hat der Journalist Arno Widmann den Moment einer selbst erlebten geistigen Sendepause |206| nacherzählt. »Vergangenen Donnerstag nun erwischt es mich«, schreibt er in der
Frankfurter Rundschau
vom 30. September 2008: »Ich sitze auf einem Podium, beginne etwas, das ein Satz zu werden sich schon nach drei, vier zusammenhanglosen Wörtern verweigert. Ich gebe nicht auf, sondern versuche meiner auseinanderfliehenden Gedanken und die sie fixierenden Wörter habhaft zu werden. Aussichtslos. Die ein oder andere Floskel stellt sich ein, dann aber kommt nichts mehr. Kein Wort, kein Gedanke. Einfach nichts. (...) Der große freie Raum zwischen mir und dem Publikum, so leer er ist, bietet tausend Hinterhalte, hinter denen die Dinge und Wörter stecken müssen, derer ich nicht habhaft werde. Ab und zu klumpt ein Wort mir über die Lippen. Der Rest der Wörter und Dinge hat sich aufgelöst, ist verloren. Eigentümlich ist: Es macht mir in Wahrheit nichts aus. Ich trauere diesem Verlust nicht nach und nicht meiner adamitischen Macht über die Namen und Dinge. Ich bin ganz gelassen in meiner Hilflosigkeit, eine depperte Heiterkeit hat Besitz von mir ergriffen. Ich betrachte mich und die Aussichtslosigkeit, aus meiner Situation herauszukommen, freundlich amüsiert. Ich habe mich von mir getrennt.« 45
Widmann beschreibt den Zustand einer plötzlich durchbrechenden Erschöpfung, die mit keiner physischen Schwäche einherging, als eine Erlösung. Der innere Zwang zu Form und Effizienz scheint für diesen Moment aufgehoben. Was Widmann in freimütiger Offenheit kundtut, wird nicht selten als Blamage erlebt und geht nicht immer so gut aus. Selten stellt sich wohl auch die Möglichkeit ein, die erlittene Schwäche so souverän zu verarbeiten. Widmanns Reflexion macht deutlich, dass sich hier neben der von keinem Ich beantragten Auszeit ein kulturelles Phänomen Ausdruck verschafft hat: In seiner Geschichte der Psychiatrie führt der französische Soziologe Alain Ehrenberg aus, welchen Preis die umfassende Erwartung von Eigenverantwortung und Selbstverwirklichung in der Moderne verlangt. Die Befreiung des |207| Subjekts aus Traditionen und Bindungen führt paradoxerweise zu pathologischen Selbstfesselungen. »Welchen Bereich man sich auch ansieht (Unternehmen, Schule, Familie), die Welt hat neue Regeln. Es geht nicht mehr um Gehorsam, Disziplin und Konformität mit der Moral, sondern Flexibilität, Veränderung, schnelle Reaktion und dergleichen. Selbstbeherrschung, psychische und affektive Flexibilität, Handlungsfähigkeit: Jeder muss sich beständig an eine Welt anpassen, die eben ihre Beständigkeit verliert, an eine instabile, provisorische Welt mit hin und her verlaufenden Strömungen und Bahnen. Die Klarheit des sozialen und politischen Spiels hat sich verloren. Die institutionellen Transformationen vermitteln den Eindruck, dass jeder, auch der Einfachste und Zerbrechlichste, die Aufgabe, alles zu wählen und alles zu entscheiden, auf sich nehmen muss.«
Weitere Kostenlose Bücher