Mein Tor ins Leben - Bajramaj, L: Mein Tor ins Leben
wieder nach Hause.« Ich hatte große Angst und traute mich keinen Mucks zu sagen. Wir fuhren mit dem Bus, und ich saß die ganze Fahrt regungslos neben meinem Großvater. Die serbische Polizei hielt regelmäßig Busse an und zog Albaner raus. Der Bus fuhr dann weiter, die Albaner wurden erniedrigt, teils mit Worten, teils mit Schlägen. Danach jagte die Polizei die Leute wieder fort,
sie mussten zu Fuß zurück. Wir Albaner waren zum Zeitpunkt vor unserer Flucht im Kosovo gar nichts mehr wert, wir wurden nur herumkommandiert, wir durften nicht albanisch in der Stadt sprechen, sollten uns unterordnen. Sie behandelten uns wie Menschen zweiter Klasse. Mama durfte nie alleine in die Stadt, weil Papa Angst um sie hatte. Von Vergewaltigungen hatten wir in unserem Bekanntenkreis noch nichts gehört, doch von Anzüglichkeiten gegenüber Frauen war viel die Rede. Manchen Frauen spuckte man einfach ins Gesicht und beschimpfte sie als »albanische Huren«. Wenn unsere Familie etwas kaufen musste, erledigten das bei uns stets die Männer. Die Frauen blieben zu Hause. Es war für sie zu gefährlich geworden.
Meine Eltern hatten seit der »Schuleröffnung« hinter Papas Werkstatt jeden Tag mit einer Vorladung gerechnet. Nach zwei Jahren war es also so weit. Ab diesem Tag mussten wir reagieren. Neben der ständigen Angst davor, verhaftet und gefoltert zu werden, sahen meine Eltern keinen Sinn mehr darin, weiter im Kosovo zu leben. Wir befanden uns am Existenzminimum – offiziell durfte Papa ja nicht mehr selbstständig arbeiten. Die Repressalien der Serben nahmen immer mehr zu. Als Albaner war es überhaupt aussichtslos, einen Job zu bekommen. Das mit Papas Werkstatt lief ja nur heimlich unter der Hand, sie brachte nicht mehr viel ein. Wir hatten kaum noch Geld. Ordentliche Lebensmittel konnten wir uns nicht mehr leisten, die waren angesichts des Jugoslawienkrieges sehr knapp. Papa wollte uns Kindern eine Zukunft bieten. Mit der Vorladung aufs Polizeipräsidium hielt uns nichts mehr: Wir mussten fliehen. So begann unsere abenteuerliche Reise – eine Flucht ins Ungewisse.
Die Flucht
Zwischen Angst, Verzweiflung, Hoffen und Bangen
Als wir flüchteten, hatten wir fast nichts mehr – kaum Geld, kaum Essen. Ich erinnere mich, dass meine Eltern und Brüder zu dieser Zeit auffallend dünn waren. Es war nichts mehr wie vorher. Durch den Krieg, der im früheren Jugoslawien 1991 begann und erst 1995 zu Ende ging, waren die Lebensmittel knapp. Die Stimmung im Land wurde immer explosiver. Zwar fanden die Kämpfe ein paar hundert Kilometer nördlicher in Kroatien und Bosnien statt, aber es war nur eine Frage der Zeit, wann der Krieg in den Kosovo hinüberschwappen sollte. Wie ich es bereits im vorigen Kapitel erzählt habe, kontrollierten die Serben kurz vor unserer Abreise unsere alte Heimat, unterdrückten unsere Kultur und unsere Sprache. Ethnische Säuberungen fanden in Kroatien und Bosnien statt, Menschen wurden wegen ihres Glaubens ermordet. Was würde im Kosovo passieren? Für die Zukunft war keine Besserung in Sicht.
Innerhalb von einer Woche organisierte uns Papa Sitzplätze im Bus. Er hatte über ein paar Kontakte einen Tipp bekommen, wer so einen Trip nach Deutschland anbietet. Mein Vater erkundigte sich so heimlich und vorsichtig wie möglich und knüpfte zarte Bande zu den »Veranstaltern«. Wir kratzten
unser letztes Erspartes zusammen, Papa aktivierte sozusagen unseren Notgroschen. Zudem liehen wir uns unter einem Vorwand noch ein paar Scheine von der engen Verwandtschaft, denn die Flucht sollte uns viel Geld kosten. Bis auf meinen kleinen Bruder Flakron packte jeder von uns am letzten Tag vor der Flucht seine eigene kleine Tasche, wir nahmen wirklich nur das Nötigste mit. Ein paar Klamotten, Schuhe, Zahnbürste, ein bisschen Wasser und das restliche Essen. Alles musste so unauffällig wie möglich sein. Wäre unser Fluchtplan aufgeflogen, hätten die Serben Papa sofort in den Knast gesteckt. Was dann passiert wäre? Ein Nachbar von uns wurde verraten. Er kam ins Gefängnis. Dort hat ihn die Polizei brutal gefoltert. Der Mann starb vor einem Jahr mit Mitte 40, er hat sich von den Qualen der Gefangenschaft nie wieder richtig erholt.
So begann unsere Reise ins Ungewisse an einem Donnerstag im Mai 1993. Um 17 Uhr ging es los. Ein Onkel brachte uns in die nächstgrößere Stadt Peć. Papas Cousin Sadik hatte für uns fünf, sich, seine schwangere Frau und seine zwei kleinen Kinder Plätze in einem Bus organisiert. Der
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