Mein Tor ins Leben - Bajramaj, L: Mein Tor ins Leben
kürzeste Weg Richtung Deutschland geht eigentlich über Serbien. Das kam natürlich nicht infrage. Die Fahrt durch Serbien wäre viel zu gefährlich gewesen. Falls uns jemand aufgehalten hätte, wären unsere Absichten sofort klar gewesen. Mein Vater wäre auch dann sofort ins Gefängnis gekommen. Ob er das überlebt hätte, bleibt doch sehr fraglich. Wir mussten somit über Mazedonien fahren. Das war ein Umweg, der einen halben Tag länger dauerte. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie uns auf der von uns gewählten Strecke entdecken, war aber wesentlich geringer.
Unsere Fluchtroute lief über Mazedonien, Bulgarien, Rumänien, Ungarn und die Tschechoslowakei – also durch halb Europa, nur um Serbien zu umgehen. Die Fahrt durch die Teilgebiete Ex-Jugoslawiens war dennoch extrem gefährlich. Stets war da die Angst, dass uns jemand entdecken und merken würde, was wir vorhatten, warum wir unterwegs waren, w ohin wir wollten. Wir durften ja das frühere Jugoslawien,
zu dem auch der Kosovo, Serbien und Mazedonien gehörten, e igentlich gar nicht verlassen. Aber es war damals noch kein Visum für unsere Ausreise notwendig. Trotzdem haben die Grenzer die Leute aus dem Kosovo regelmäßig zurückgeschickt.
Der Bus fuhr uns durch all die genannten Teilrepubliken. Unsere Essens- und Trinkreserven waren knapp, wir mussten sie gut einteilen. Wir hatten ständig Hunger und Durst. Doch wir waren viel zu ängstlich, um aufzumucken, und außerdem hatten wir auch kaum noch Geld. Deshalb herrschte im Fahrzeug eine unheimliche Stille. Alle waren angespannt. Neben uns fünf Bajramajs und unseren viereinhalb Verwandten befanden sich noch zehn andere Menschen im Bus. Jeder sprach nur das Nötigste, die ängstlichen Blicke der einzelnen Mitfahrer trafen gelegentlich aufeinander. Wir machten kaum Pausen, dennoch brauchten wir eine gefühlte Ewigkeit, bis wir nach einer langen, kräftezehrenden Odyssee durch das ehemalige Jugoslawien endlich Bulgarien erreichten. Wir konnten ohne Probleme die Grenze passieren, keiner hielt uns auf. Die Beamten winkten unsere als Touristenreise getarnte Truppe durch. Wir hatten einfach Glück, denn wir kannten auch andere Geschichten. Ganze Busse wurden gnadenlos zurückgeschickt oder einzelne Leute herausgezogen: Sie durften nicht einreisen. Die Angst fuhr also stets mit. Meine Eltern stellten sich immer wieder dieselben Fragen: Was ist, wenn sie uns nicht passieren lassen oder einzelne Familienmitglieder abweisen? Was ist, wenn wir es nicht schaffen?
In Bulgarien selbst lief weiter alles reibungslos, man nahm von uns kaum Notiz. Ich werde allerdings nie vergessen, als wir den Grenzfluss, die Donau, zwischen Bulgarien und Rumänien mit einem kleinen Boot überqueren mussten. Der Busfahrer hatte uns aussteigen lassen und auf das Ufer gezeigt, dort sollten wir verharren. Drei Stunden warteten wir auf das Schiff, versteckten uns im hohen Gras. Wir hockten am Ufer, unsere Kleidung war klamm und es war wahnsinnig unbequem, denn wir mussten ja stillhalten und aufpassen, dass uns keiner sieht. So etwas zermürbt. Dann kam unser
Boot. Ich kam mir als kleiner Pimpf in so einem winzigen Holzkahn zusammengepfercht mit ganz vielen Leuten auf der Donau ziemlich verloren vor. Doch wie musste sich erst mein kleiner Bruder fühlen: Flakron war damals noch ein Baby und hat bestimmt gespürt, dass Ungewöhnliches um ihn herum passiert. Er hat immer so viel geschrien, das trug nicht gerade zur Entspannung bei. Diese Boote wurden auch von den bulgarischen und rumänischen Einheimischen genutzt, ein kleiner Grenzverkehr war dort eingerichtet. Angesichts des Krieges in Jugoslawien waren Menschen aus den Teilrepubliken dort aber nicht gern gesehen und wurden regelmäßig zurückgewiesen. Wir hatten wieder einmal Glück, keiner bemerkte uns oder wollte uns bemerken.
Auf der anderen Seite der Donau stand wieder ein Bus bereit. Ein wildfremder Mensch karrte uns weiter nach Norden. Die Maschinerie der aufeinander abgestimmten Schleuser, denen wir hilflos ausgeliefert waren, funktionierte.
Unsere Führer waren Albaner. Eine richtige Beziehung zu den Männern mittleren Alters konnten wir in den fünf Tagen unserer Flucht nicht aufbauen. Immerhin sprachen wir dieselbe Sprache, das erleichterte die Verständigung. Vielleicht haben sie uns mal eine Tasche getragen, mehr Zuneigung war da nicht. Herzlichkeit versprühte keiner dieser Typen, auch Mitleid mit uns hatte niemand. Das war ein knallhartes Geschäft, schließlich bezahlten wir
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