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Mein Tor ins Leben - Bajramaj, L: Mein Tor ins Leben

Mein Tor ins Leben - Bajramaj, L: Mein Tor ins Leben

Titel: Mein Tor ins Leben - Bajramaj, L: Mein Tor ins Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lira Bajramaj
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heftig wurde es nach der Grenze in der ehemaligen Tschechoslowakei. Mittlerweile sind daraus zwei Staaten geworden: Tschechien und die Slowakei. Unsere Basis – der Ausgangspunkt für unseren letztlichen Grenzübergang in die Freiheit, in ein Land, in dem wir um Asyl suchen konnten und durften – befand sich etwa 100 Kilometer von der deutschen
Grenze entfernt. Dort hatte uns der Bus hingekarrt. Wir waren hier irgendwo in der Nähe von Prag in einem Hotel untergebracht, sollten dort drei Tage lang auf eine günstige Gelegenheit warten. Es handelte sich um eine sehr billige Absteige, die Übernachtung war im »Reisepreis« mit enthalten. Die Leute im Hotel wussten schon Bescheid, kannten unsere Absichten. Wir waren nicht die erste Busladung aus Ex-Jugoslawien, die dort Station machte. Das Hotel arbeitete mit den Schleusern zusammen.
    Doch bereits am gleichen Abend gegen Mitternacht bekamen wir ein Zeichen, dass es losgehen würde. Damit hatten wir nicht gerechnet, wir glaubten an eine längere V erschnaufpause. Doch davon war in dieser Nacht nicht mehr die Rede. Die Gefahr, im Dunstkreis des Hotels per Auto oder Bus auf eine Polizeikontrolle zu treffen, war enorm groß. Deshalb sollten wir zunächst zu Fuß eine wenig befahrene Landstraße erreichen. Wir mussten über kleine Waldwege, Berge runter und wieder hoch. Es war stockdunkel, man konnte die eigene Hand vor Augen nicht sehen, geschweige denn, wo man hintritt. Wir wussten nicht, wo wir waren beziehungsweise wo es langging. Wir waren dem Führer völlig hilflos ausgeliefert. Aber das war nichts Neues, schließlich mussten wir auf der kompletten Flucht fremden Menschen vertrauen. Unser größtes Problem stellte in dieser Nacht wieder einmal mein kleiner Bruder Flakron dar, der gerade mal ganze 13 Monate auf seinem Buckel hatte. Er war, wie schon erwähnt, ein sehr empfindliches Kind. Mein Vater hat ihn getragen. Laut meinem Papa war Flakron damals wirklich sehr schwer, obwohl ich ihn doch so hager in Erinnerung habe. Man muss sich das vorstellen: Mein Vater mit Flakron auf dem Arm und zusätzlichen Taschen. Meine Mutter führte mich an ihrer Hand und trug ebenfalls vollgestopfte Beutel. Mein siebenjähriger Bruder Fatos konnte schon alleine laufen und bekam auch noch eine Tasche umgehängt.
    Diesen Fußmarsch von dem ersten Hotel in der Tschechoslowakei mitten in der Nacht empfand ich als ganz, ganz
schlimm. Der Führer hat zu uns damals knallhart gesagt: »Hier darf keiner weinen.« Absolut still mussten wir sein. Sonst hätte er die Aktion abgebrochen oder nur einen Teil der Familie nach Deutschland geschleust. Meine Eltern haben dann alles versucht, um Flakron ruhig zu halten. Und tatsächlich war er in dieser Nacht total leise. Vielleicht hat der kleine Mann damals irgendwie gespürt, dass er keinen Mucks von sich geben durfte. Es war wie ein Wunder: Er hat selig geschlafen.
    Die erste Etappe war nach vielen Kilometern zu Fuß durch die Dunkelheit geschafft. Wir fragten nicht nach, wie lange es noch dauern würde oder wie viel schon hinter uns lag. Wir funktionierten einfach, gingen fremdgesteuert weiter. Auf e iner wenig befahrenen Straße erwartete uns ein Kleinwagen. Wir mussten uns zu zwölft (!) in dieses Fahrzeug quetschen. So fuhren wir in der Tschechoslowakei immer näher an die Grenze zu Deutschland ran. Voll unauffällig: Zwölf Leute in so einer kleinen Kiste. Mein Gott, haben wir geschwitzt! Ich erinnere mich an den unangenehmen Geruch. Es muss wohl der Schweiß gewesen sein. Ob aus Angst oder durch die extreme körperliche Wärme bei so vielen Menschen auf so einem kleinen Fleck, vermag ich gar nicht mehr zu sagen. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem.
    Heute denke ich mir: »Das kann doch nicht sein, die hätten uns doch schnappen müssen.« Die tschechoslowakische Polizei hatte uns ja in der besagten Nacht auch angehalten und trotzdem nicht festgenommen. Die hielten ihren Kopf ins Auto rein und konnten gar nicht glauben, was sie da sahen. Die haben mehrmals durchgezählt und waren perplex. Erst hat der eine Polizist gezählt, dann sein Kollege. Die waren völlig fassungslos. Ich weiß noch, dass wir die Polizisten mit großen Augen angeschaut haben. Wir hatten solche Angst, dass jetzt alles vorbei sein würde. Der ganze, harte Weg umsonst? Wir haben den Polizisten dann Geld gegeben. Aus der heutigen Sicht unglaublich bescheidene 20 Deutsche Mark. Dafür haben sie uns laufen lassen. Für 20 Mark – das muss man sich mal vorstellen.

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