Mein Tor ins Leben - Bajramaj, L: Mein Tor ins Leben
20 Mark haben über unsere Zukunft entschieden.
Bis zum nächsten Hotel hat uns keiner mehr angehalten. Wir hatten erst mal Ruhe. In der Herberge wussten sie auch wieder Bescheid, versorgten uns mit etwas Essen und Trinken. Dann kam der zweite Fußmarsch. Wieder ging es im Schutz der Nacht durch den tiefen Wald. Wir waren jetzt in absoluter Grenznähe zu Deutschland. Der Freiheit so nah. Hundegebell war von Weitem zu hören, sie waren uns also doch bereits auf den Fersen. Diese »Schleuser-Hotels« und die Fußmärsche sollten ja dazu beitragen, uns so unauffällig wie möglich der Grenze näher zu bringen. Hier konnten wir nicht mehr alles mit einem Bus passieren, ohne die nötigen Papiere. Unsere Angst vor Abschiebung, der Verweigerung der Einreise war groß. Papa habe ich hochkonzentriert in Erinnerung, Mama, Fatos und ich waren gelähmt vor Angst. Flakron schlief. Ich kann mich noch genau an Mamas und mein lautes Schluchzen erinnern, wir konnten das nicht unterdrücken, das kam automatisch. Unsere Schleuser ermahnten uns nicht nur einmal. Wir spürten, dass die Hunde der Grenzer ganz nah waren, dass sie auf uns gehetzt wurden. Gefühlt trennten uns nur wenige Meter von den Tieren. Gesehen aber haben wir die Hunde nicht.
Wir schafften es rechtzeitig. Irgendwann hat uns der Führer gesagt, dass dort drüben zwei Autos für uns bereitstehen würden. Und tatsächlich warteten sie dort auf uns – und wir stiegen ein: Die organisierten Taxen holten uns auf der deutschen Seite ab. Der Führer war verschwunden. Die Taxifahrer waren Leute, die lange dort in der Gegend gelebt hatten oder heute noch leben. Die kannten jeden Stein, jeden Schleichweg, jedes Schlupfloch. Sie waren extrem ortskundig. Wir haben all diese Menschen vorher nicht gekannt und kennen sie auch heute nicht. Wer waren diese Personen? Ich frage mich das immer wieder. Da griff ein Rädchen ins andere. Mich beeindruckt noch heute, wie viele Leute an unserer Flucht beteiligt waren. Allerdings lief doch alles sehr nüchtern und gefühllos ab. Die Schleuser wollten partout keine Bindung zu ihren Flüchtlingen aufkommen lassen.
Die Taxis brachten uns dann nach Kassel, dort übernachteten wir eine Nacht in einem Hotel. Keiner dort wollte interessanterweise unseren Ausweis sehen. Wir konnten unser Glück kaum fassen, Mama und Papa blieben weiter skeptisch. War das wirklich möglich, dass unsere Familie unbeschadet diese Flucht überstanden hatte? Am nächsten Tag holte uns mein Opa Ramush in Kassel ab. Er war eigentlich gegen unsere Flucht, weil er sie für zu gefährlich hielt. Er hatte natürlich recht, meine Eltern waren ein großes Risiko eingegangen. Sie hätten es nie getan, wenn die Situation im Kosovo nicht so aussichtslos und lebensbedrohlich gewesen wäre. Opa Ramush plumpste an diesem Tag ein riesiger Stein vom Herzen. Zusammen fuhren wir mit ihm nach Mönchengladbach. Unsere Flucht dauerte vom 15. bis zum 19. Mai 1993. Knapp fünf Tage Albtraum lagen hinter uns.
Heute frage ich mich oft: Was wäre passiert, wenn sie uns auf der Flucht erwischt hätten? Sie hätten meinen Vater sicher verhaftet, viele Leute überlebten so eine Verhaftung und ihre Folgen nicht. Was aus uns Kindern und meiner Mama geworden wäre? Auch bei diesem Gedanken bekomme ich immer eine Gänsehaut.
Ein Flüchtlingsheim in Remscheid nannte sich ab dann ein Jahr lang unser »Zuhause«. Keine Frage: Wir waren froh, dem schlimmen Leben im Kosovo entkommen zu sein, zudem hatten wir Teile unserer Familie in greifbarer Nähe in Mönchengladbach. Dennoch erwartete uns eine extrem harte Zeit. Wir waren im Kosovo früher eine gut situierte Familie, wir besaßen dort immerhin einen eigenen Bauernhof. Jetzt mussten wir in Remscheid – nach kurzen Zwischenstationen in Düsseldorf und Willich-Münchheide – zu fünft in einem kleinen Zimmer hausen.
Jeden Tag war die Polizei im Heim da. Es gab immer Ärger, wir Kinder hatten immer Angst vor der Polizei und flüchteten direkt in unser Zimmer, weil wir immer dachten, dass sie uns gleich mitnehmen und ausweisen. Einige Anwohner erlaubten sich dann regelmäßig einen Spaß: Während wir
draußen spielten, sagten sie zu uns: »Lauft weg, die Polizei ist da, um euch zu holen.« Fatos und ich liefen dann immer so schnell wir konnten in unser Zimmer und trauten uns nicht mehr raus. Im Heim gab es viele Kinder aus Afrika, der Türkei, dem Kosovo, aus Marokko. Ich hatte meine albanischen Freunde, mit den anderen konnte ich mich nicht
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