Mein zauberhafter Ritter
dem man eine lebhafte Fantasie hat. Gut aussehende junge Männer in Kettenhemden tauchten nicht einfach aus dem Nebel auf, nicht einmal in England. Sie hatte sicher diese ganze Reenactment-Sache zu ernst genommen und zu viel Raffinadezucker gegessen. Und dann hatte ihr Verstand ihr einen Streich gespielt.
Trotzdem war sie in dieser Woche, in der sie sich dort aufgehalten hatte, jeden Morgen an den gleichen Ort zurückgekehrt, in der unbegründeten Hoffnung, noch einen weiteren Blick erhaschen zu können ...
Sie atmete tief durch und rieb sich mit den Händen über das Gesicht. Anscheinend drehte sie durch. Vielleicht lag es an dem Rauch, den sie eingeatmet hatte, oder an dem Verlust ihrer vielen Pailletten. Am stärksten war ihr von diesem Sommer in Erinnerung geblieben, dass sie zwar gute Geschäfte auf den mittelalterlichen Märkten gemacht hatten, ihre Eltern aber trotzdem irgendwann genug von ihr hatten und sie wieder bei ihrer Tante abluden, um sich ihren eigenen Interessen besser widmen zu können. Sie hatte wie früher die Existenz jeglicher
Magie geleugnet und diese Einstellung sogar während der Jahre auf dem College stolz verkündet.
Und wenn sie kegelförmige Kopfbedeckungen mit langem wallendem Netzstoff bastelte, Blumenkränze flocht und mit wehenden Bändern verzierte oder Kleider mit tief angesetzter Taille und kleinen Schleppen nähte, dann war das rein geschäftlich. Sie schwelgte nie mehr in romantischen Vorstellungen über die Frauen, die solche Kleidung getragen haben mochten, und die Ritter in schimmernder Rüstung, die sie geliebt haben könnten. Ganz gewiss nicht. Und sie hatte sich niemals tiefere Gedanken über die fantastischeren und magischeren Kleidungsstücke gemacht, die sie für Feen und dergleichen angefertigt hatte. Sie war eine stahlharte, entschlossene Geschäftsfrau, die auf einem Koffer voll mit Mustern saß. Die Chance, einen Geldgeber mit ihrer unglaublich entzückenden Kollektion von feenhafter Kleidung für kleine Mädchen zu vernünftigen Preisen zu beeindrucken und ihn darüber hinaus von einer ebenso großen Sammlung sehr fein geschnittener, mittelalterlich angehauchter Kleidungsstücke für Erwachsene zu überzeugen, konnte sie sich unmöglich entgehen lassen.
Vielleicht würde es sich im Nachhinein als Segen erweisen, dass ihr ganzes Leben vor ihren Augen niedergebrannt war. Sie hatte keine andere Wahl, als nach vorne zu schauen und in England alles auf eine Karte zu setzen.
Der Winnebago umrundete den Block drei Mal, bis sich ein Parkplatz gefunden hatte. Es dauerte eine Weile, bevor sich schließlich die Tür öffnete und der Wagen seine Insassen ausspuckte. Pippa schob sich das Haar aus dem Gesicht und wappnete sich für den Angriff.
Zuerst kam ihre Mutter in einem bunt gemusterten Kaftan, der ihr langes, mit Henna gefärbtes Haar perfekt zur Geltung brachte. Sie wirkte ein wenig benommen, aber da das ihre übliche Verfassung war, machte Pippa sich keine weiteren Gedanken darüber. Ihr Vater stolperte die Stufen als nächster herunter. Er trug eine gebleichte Jeans, ein ausgeleiertes
Grateful-Dead-T-Shirt und ein Dutzend Ketten aus bunten Kunststoffperlen um den Hals. Der Cowboyhut, den er auf dem Kopf hatte, war eigentlich unpassend, aber wahrscheinlich war er aus Hanf, also ließ sich nichts dagegen einwenden.
Beide blieben abrupt stehen und starrten auf die Ruinen von Pippas Wohnung. Sie schienen ihren Blick kaum abwenden zu können, aber das lag vielleicht an den schillernden Pailletten.
Ihre Mutter hielt ihrem Ehemann eine Dose mit irgendeinem Inhalt hin, und er griff hinein, zog etwas heraus und aß es, ohne seinen Blick von der Ruine lösen zu können.
»Das sieht nach Brownies aus«, murmelte Pippa.
»Nur gut, dass wir nicht wissen, was da alles drin ist«, erwiderte Peaches leise.
Pippa grinste. »Du weißt, dass ich keine warmen Gefühle für sie hege, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich sie als Strafe des Schicksals betrachten sollte.«
»Ich habe dabei nicht an unsere Eltern gedacht.«
»An wen dann?«
Peaches deutete auf das Wohnmobil.
Als Pippa einen Blick auf den Ausstieg warf, blieb ihr der Mund offen stehen.
Ein Fuß erschien in ihrem Blickfeld, ein Fuß mit einem Schuh, dessen Absatz mindestens zwölf Zentimeter maß. Dann kam eine Wade, und schließlich wurde das ganze scheinbar endlos lange Bein sichtbar. Die Besitzerin dieser unglaublichen Beine schien aus einem Musical von Bob Fosse entsprungen zu sein, als sie den Rest ihres
Weitere Kostenlose Bücher