Meine Kinderjahre
Vortrefflichkeit zu verklären, sonst wird man all dieses Vortrefflichen nicht recht froh. Ich hatte das Glück, in meinen Kindheits-und Knabenjahren unter keinen fremden Erziehungsmeistern – denn die Hauslehrer bedeuteten nach dieser Seite hin sehr wenig – heranzuwachsen, und wenn ich hier noch einmal die Frage stelle: »Wie wurden wir erzogen«, so muß ich darauf antworten: »Gar nicht und – ausgezeichnet.« Legt man den Akzent auf die Menge, versteht man unter Erziehung ein fortgesetztes Aufpassen, Ermahnen und Verbessern, ein mit der Gerechtigkeitswaage beständig abgewogenes Lohnen und Strafen, so wurden wir gar nicht erzogen; versteht man aber unter Erziehung nichts weiter als »in guter Sitte ein gutes Beispiel geben« und im übrigen das Bestreben, einen jungen Baum bei kaum fühlbarer Anfestigung an einen Stab in reiner Luft frisch, fröhlich und frei aufwachsen zu lassen, so wurden wir ganz wundervoll erzogen. Und das kam daher: Meine Eltern hielten nicht bloß auf Hausanstand, worin sie Muster waren, sie waren auch beide von einer vorbildlichen Gesinnung, die Mutter unbedingt, der Vater mit Einschränkung, aber darin doch auch wieder uneingeschränkt, daß ihm jeder Mensch ein Mensch war. Noch weit über seine Bonhomie hinaus ging seine Humanität. Er war der Abgott armer Leute.
So waren die zwei Persönlichkeiten, die wir tagaus, tagein vor Augen hatten, und wie man mit Recht gesagt hat, das Wichtigste für den physischen Menschen sei die Luft, drin er lebe, weil er aus ihr mit jedem Atemzuge Gesundheit oder Nichtgesundheit schöpfe, so ist für den moralischen Menschen das, was er von seinen Eltern sieht und hört, das Wichtigste, denn es ist nicht eine von glücklichen Zufällen abhängige, vielfach unfruchtbare Belehrung, sondern ein Etwas, das in jenen Jahren, wo die Seele sich bildet, von Minute zu Minute seine Wirkung übt.
»Gar nicht erzogen und ausgezeichnet erzogen«, so sagte ich, und dies scheinbar sich Widersprechende paßte ganz vorzüglich zusammen. Es paßte zusammen und hätte noch besser gepaßt, wenn der Zustand des sich gar nicht oder doch nur wenig um uns Kümmerns ein permanenter gewesen und jederzeit in seiner vollen Reinheit aufrechterhalten worden wäre. Leider aber war dies nicht der Fall; vielmehr wurde durch dann und wann auftretende Versuche, mit den herkömmlichen pädagogischen Mitteln einzugreifen, unser normaler Nichterziehungsprozeß gestört, teils nutzlos, teils geradezu schädigend. Ich kann mich nämlich nicht entsinnen, jemals mit einem vollen Recht bestraft worden zu sein, entweder war es im Maß verfehlt oder ganz und gar ungerechtfertigt. Es traf sich dabei so sonderbar, daß alle diese Strafen durch meinen Vater vollzogen wurden, wobei jedoch zwei Gruppen unterschieden werden müssen, solche, zu denen der Vollziehende, mein Vater also, sich durch sich selber getrieben fühlte, und solche, zu denen er bloß abkommandiert wurde. Jene haben keinen großen Eindruck in meiner Seele hinterlassen, aber diese, die bloß auf Befehl erfolgten, schmerzen mich bis diesen Tag.
Ich gebe ein paar Beispiele zur Charakterisierung der einen und der anderen Art und beginne mit den aus freiem Willen entsprossenen Strafen. Daß es überhaupt zu solchen kam, muß bei dem Charakter meines Vaters überraschen, denn er war ganz ausgesprochen für leben und leben lassen und jedenfalls der unstraflustigste Mann von der Welt. Daß er nun dem allen zum Trotz doch gelegentlich zu Strafvollstreckungen aus eigener Initiative schritt, hatte in ganz kleinen Nebenzügen seines Charakters seinen Grund, in etlichen Sonderbarkeiten, die freilich ganz zu ihm gehörten und erst recht eigentlich das aus ihm machten, was er war: ein Original. Unter diesen kleinen Nebenzügen waren zwei, für mich wenigstens, von ganz besonderer Bedeutung: Er war zunächst allemal außer sich, wenn eine Fensterscheibe neu eingesetzt werden mußte, und geriet zum zweiten, und zwar weit über den Fensterscheibenärger hinaus, in eine kleine Berserkerrage, wenn ihn das Riesendach seines Hauses, weil es wieder mal durchgeregnet hatte, zu Einlegung von ein paar neuen Dachziegeln zwang. An diesen beiden Eigentümlichkeiten ist der Frieden meiner Kinderjahre mehrfach gescheitert. Ich war ein eifriger Ballspieler und bevorzugte jene besondere Form des Spiels, wo sich einer meiner Kumpane mit dem Rücken an die Wand stellen und seine rechte Hand ausstrecken mußte. Nach dieser Hand zielte ich nun, und war ich dabei nicht
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