Meine Schwester und andere Katastrophen
ihr Hühnerfrikassee vertieft (lecker, aber wo waren die Pilze ?). Cassie hatte den ganzen Abend kein Wort mit mir gesprochen. Sie war mir ein Rätsel. Hoffentlich war es nichts, was ich getan hatte. Wahrscheinlich dachte sie nur darüber nach, ob sie George verlassen sollte. Sie sah abgezehrt aus. Ich hatte sie noch in der Tür umarmt, aber die Umarmung hatte sich angefühlt, als würden zwei Bügelbretter aufeinanderknallen. Es war schön, sich dünn zu fühlen, aber weniger schön, sich hungrig zu fühlen, und insgeheim wusste ich selbst, dass ich wieder zulegen sollte. Bald.
Wenn ich meine Schwester richtig einschätzte, bereute sie außerdem, dass sie mir das mit George erzählt hatte. Sie war so verschlossen, dass es mich fast umbrachte. Ich plapperte mit jedem über alles. Erst vor einem Monat hatte ich, kurz bevor Tims Vorschuss für das »A-a-ahoi-System« eingetrudelt war, einem Fremden in der U-Bahn von unseren Finanznöten erzählt. Der Zug steckte zwischen Euston und Camden Town im Tunnel fest. Ich erzählte dem Mann, dass ich mir vorstellen könnte, arm zu sein, aber nicht, arm und fett zu sein. Er tat so, als wäre er in eine Anzeige für eine Fußpilzsalbe vertieft. Dann kam mir der Gedanke, dass er es merkwürdig finden könnte, von mir angequatscht zu werden, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen, darum sagte ich, um zu beweisen, dass ich ganz normal war: »Hey, finden Sie es nicht unglaublich, dass es Menschen gibt, die ›du Arschloch‹ brüllen, wenn sie einen Soap-Star auf der Straße sehen?«
Der Mann sah mich ängstlich an. Ich seufzte. Zeit für die großen Geschütze.
»Oder was ist mit Leuten, die ihre Weihnachtsdekoration
das ganze Jahr über stehen lassen? Denen fehlt doch eindeutig was im Leben.«
Der Mann sprang auf, rammte durch die Tür am Ende des Waggons und ließ sich im nächsten Abteil nieder. Total irre.
Cassie hat ähnliche Kommunikationsprobleme. Wenn sie etwas beschäftigt, erwähnt sie es mit keinem Wort. Und wenn jemand sie darauf anspricht, streitet sie alles ab und schiebt irgendein Pseudoproblem vor.
Allmählich kam mir der Verdacht, dass da mehr im Spiel war als nur die Problematik um Göttergatte und Kindersegen, aber wenn sie mich nicht ins Vertrauen ziehen wollte, würde ich nicht fragen. Ich hatte auch meinen Stolz. Wenn dich deine Schwester abweist, weil sie der Möglichkeit zuvorkommen will, dass du sie irgendwann in ferner Zukunft abweisen könntest, dann wirst du sie abweisen.
Ich wollte Cassie nahe sein, aber sie zog dabei eine Grenze, die ich nicht überschreiten sollte. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie mich überhaupt nicht brauchte, und das tat weh. Am offensten war sie mir gegenüber gewesen, als ich beschlossen hatte, mich vom Leben zurückzuziehen, nachdem es mir so übel mitgespielt hatte. Die Fehlgeburt hatte meine hässliche Seite zum Vorschein gebracht. Das hatte Cassie schockiert und mich gefreut. Es war schön gewesen, dass sie sich zur Abwechslung mal um mich sorgte, dass sie sich den Kopf über meine Launen, meine barsche Art, meine inneren Widersprüche zerbrach. Die Tatsache, dass sie bereit gewesen war, die dienende Rolle anzunehmen, hatte den Schaden fast wiedergutgemacht. Es bedeutete einen Fortschritt, doch ich wollte mehr. Ich hatte genug von dieser Liebe-Hass-Wippe zwischen uns. Ich wollte Beständigkeit und unbedingte Liebe.
Das Problem war, dass sie keine Angst vor mir hatte. Niemand hat Angst vor mir. Nicht mal die … Mäuse. Wahrscheinlich würden mir die Mäuse sogar den Käse vom Brot klauen. So wenig Angst einflößend bin ich. Und ich hatte den Verdacht, dass Cassie nur die Menschen respektierte, vor denen sie auch ein wenig Angst hatte.
Vielleicht hätte ich einfach dankbar sein sollen, dass wir wieder miteinander auskamen, so gut das überhaupt ging. Vermutlich sollte ich mich damit abfinden, dass ich für sie immer die große, plumpe Schwester bleiben würde. Cassie würde immer als die Kronprinzessin, die strahlende kleine Schwester behandelt werden wollen. Ich hatte damit nie ein Problem gehabt - wieso sollte es jetzt ein Problem sein? Sie war mir eine größere Hilfe als je zuvor. Sie hatte meine Sexkolumne gelesen und behauptet, dass sie ihr gefiel, obwohl ich genau wusste, dass sie angewidert war. Ich verriet ihr nicht, dass ich mir alles nur ausgedacht hatte. Sie setzte mir gegenüber eine Maske auf, darum wollte ich ihr gegenüber ebenfalls eine Maske aufsetzen. Ich kann das nur mit zwei
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