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Meine Schwester und andere Katastrophen

Titel: Meine Schwester und andere Katastrophen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Maxted
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einem Wundbrand? Einer Blutvergiftung? Einer Beinamputation?
    »Ich schreibe dir das Rezept auf«, versprach Mrs Hershlag.
    » Mich fragst du nie nach Rezepten, Cassie«, meldete sich Vivica zu Wort. Sie ließ es wie einen Scherz klingen.
    »Weil ich deine Rezepte kenne«, sagte Cassie. »Oder sollte ich sagen ›dein Rezept‹?«
    Ich musste kichern. An einem schicksalhaften Abend hatte unsere Mutter eine Kochsendung angeschaut (wahrscheinlich waren die Batterien in der Fernbedienung leer) und davon im Gedächtnis behalten, dass Alkohol, Sahne und Butter den Geschmack eines Gerichtes intensivierten. Von jenem Tag an war alles, was sie uns servierte, schnapsgetränkt und unter Bergen von Fett begraben. Alles, was im Lauf der Wochen wechselte, waren die mikroskopisch kleinen Einlagen (Lamm, Rind, Huhn, Fisch).
    »Darf ich fragen, woher du diese wunderschönen Sabbat -Kerzenleuchter hast?«, erkundigte sich Cassie, die ganz offensichtlich psychedelische Drogen eingeworfen hatte.
    »Die sind ein Hochzeitsgeschenk meiner Mutter«, erklärte Mrs Hershlag stolz. »Sie gehörten meiner Großmutter. Sie sind mindestens sechzig Jahre alt, aber weil ich sie jede Woche poliere, sehen sie aus wie neu.«
    »Wirklich«, sagte Cassie. »Ist es nicht faszinierend, dass sie nicht nur sentimentale und religiöse Bedeutung haben, sondern auch noch stylish sind? Als Tischschmuck sind sie super. Und sie passen hervorragend zum Dekor.«

    Dekor? Welchem Dekor?
    Verglichen mit dieser Rumpelkammer war meine Wohnung das reinste Designmuseum, und Cassie hasste sie. (»Alles funktioniert nur halb«, hatte sie mir einmal erklärt. »Du musst auf die Mikrowelle schlagen, damit sie sich öffnen lässt. Auf der Toilette musst du die Türklinke ganz fest nach unten drücken, bis du dir fast das Gelenk verstauchst. Im Waschbecken kommt aus dem Heißwasserhahn das kalte Wasser. Du musst mit einem Schraubenschlüssel auf den Boiler einprügeln, damit die Heizung anspringt. Der Deckel vom Mülleimer in der Küche ist kaputt, sodass du den Eimer anfassen musst, wenn du was wegwerfen willst. Deine Wohnung ist ein Hindernisparcours.«)
    »Dad«, fuhr Cassie ohne Pause fort, »wie geht es dir in der Arbeit? Ist irgendwas Interessantes passiert?«
    Sie konnte es nicht ausstehen , wenn sich unser Vater über das Hotel ausließ. Wir wussten, dass es heiße Geschichten über Sex, Drogen und geklaute Bademäntel gab, aber die bekamen wir - »die Kinder« - nie zu hören. Wie Cassie einst bemerkte: » Wir bekommen immer nur die Äsop-Fabeln, und den Rest erfahren wir erst, wenn wir vierzig sind.«
    »Zufälligerweise ja«, setzte unser Vater an.
    Cassie strahlte. Merkte eigentlich sonst niemand, dass meine Schwester von Außerirdischen gekidnappt und durch einen Roboter ersetzt worden war?
    »Heute«, sagte unser Vater, »hat ein Gentleman bei uns eingecheckt, ein richtiger Multimillionär. Er verkehrt schon seit Jahren bei uns. Ich nahm dem Pagen seine Louis-Vuitton-Koffer ab. Dieser Gentleman legt Wert darauf, dass jedes Mal vierzig Päckchen Rothman-Zigaretten in seinem Zimmer liegen. Ich besorge ihm oft Theaterkarten. Er hat Parkinson, und als ich heute sein Gepäck nach oben brachte, sagte
ich: »Wie geht es Ihnen, Sir?« Und er antwortete: »Sie sind viel reicher als ich. Würden Sie mir zehn Jahre Ihres Lebens verkaufen, wenn ich Ihnen eine Million Pfund dafür geben würde?«
    Es entstand betretenes Schweigen.
    Cassie klappte den Mund auf, um es zu füllen, aber George kam ihr zuvor: »Wisst ihr was, Leute? Meine Frau erwartet ein Kind!«

KAPITEL 22
    Ich stand auf. Georges Worte liefen in meinem Kopf Amok und brachten mich ins Wanken. Ich fühlte mich, als müsste ich bei einem Erdbeben das Gleichgewicht halten. Noch während ich auf die Tür zustolperte, rief unsere Mutter: »Schätzchen, das ist ja großartig! Lizbet kann dir ihre Sachen geben!«
    »Vivica«, wies sie unser Vater scharf zurecht.
    Sie ergänzte hastig: »Ich meine, es bringt Unglück, sie im Haus zu lassen.«
    »Ja«, hörte ich mich sagen, »obwohl ich glaube, dass das nur für die Zeit vor der Fehlgeburt zutrifft.«
    Mrs Hershlag war aufgesprungen, um Cassie zu küssen - und bekam meinen Arm zu fassen, als ich mich an ihr vorbeidrücken wollte. »Meine Liebe«, sagte sie. »Mag Gott dir Segen spenden.«
    Es war ein alter Spruch, mit dem man jemandem das gleiche Glück wie jemand anderem wünschte. (Jedes Mal, wenn ich zu einer jüdischen Hochzeit ging, hörte ich ihn hundertmal, und

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