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Meine Schwester und andere Katastrophen

Titel: Meine Schwester und andere Katastrophen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Maxted
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lang dieses merkwürdige Benehmen an den Tag gelegt hatte, beschloss ich, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Das Rätsel war in Sekunden gelöst. Wir lebten in einer kinderverseuchten Gegend, und wohin Tim auch schaute, erblickte er dicke Väter mit dünnem Haar und ausdrucksloser Miene, die hinter einem Buggy über den Bürgersteig trotteten. Ihre Körperhaltung war eine Zumutung (wie Tims Mutter gesagt hätte), sie waren Schlemihlse (wie meine Tante Edith gesagt hätte), und was sie anhatten! Wussten sie überhaupt noch, dass sie Männer waren? Schlabbrige, sackige Nylonshorts, formlose, ausgeblichene Sweatshirts, weiße Socken, abgetretene Turnschuhe - Kleider für ein Leben, das eine einzige Tretmühle war.
    Tim hatte die Tage zusammengesunken hinter dem Starbucks-Schaufenster verbracht, literweise Cappuccino geschluckt und in seine Zukunft geblickt - die so gar nichts mit den Träumen zu tun hatte, die er sich mit vierzehn an die Wand gepinnt hatte. Irgendwann kommt der Tag, an dem jeder Mann begreift, dass man ihn nie darum bitten wird, für Manchester United zu spielen, dass er niemals einen Grand Prix gewinnen wird und dass er auch keine Million vor seinem dreißigsten Geburtstag machen wird - und für Tim kam dieser Tag, als er mit einunddreißig im Starbucks saß, und er kam mit einer Sense und einer schwarzen Kapuze und in ausgelatschten Turnschuhen.

    Ich für meinen Teil hatte vage mit der Phantasie gespielt, eines Tages ein kleines Mädchen zum Ballett zu bringen und ein allgemeines »Aah!« zu ernten, aber dies war das erste Mal, dass ich mir die wahren Konsequenzen vor Augen hielt - oder vielmehr die Konsequenzen vor meinen Augen herumtanzten -, und was ich da sah, gefiel mir überhaupt nicht. Hatte Tim die Frauen gesehen? Für mich waren sie die Scheiß-drauf-Mamas. Jetzt, wo ich mich der Realität stellen musste, ging mir unentwegt ein Musterexemplar im Kopf herum, das bei uns an der Straßenecke wohnte. Sie war vierzig Jahre alt. Ich wusste das, weil ich gehört hatte, wie sie Tabitha eines Samstagmorgens um sieben zugerufen hatte: »Ich hab heute meinen Vierzigsten! Harold schmeißt den Grill an! Ihr müsst auch kommen! Bring John und, äh, Toby mit!«
    Sie sah aus wie fünfzig, und ich hatte sie noch nie in etwas anderem als einem alten grauen Jogginganzug gesehen. Vielleicht würde sie ihn zur Feier des Tages bügeln. Vielleicht hätte sie sogar hübsch aussehen können, aber sie trug nie auch nur einen Strich Make-up, und ihre Haut war spröde und faltig. Die schwarzen Haare waren von grauen Strähnen durchzogen und sahen aus, als wären sie seit Jahren nicht gekämmt worden. Aber am schlimmsten war, dass sie einen Jungen in Tomas’ Alter hatte, der auch immer in einem alten blauen Jogginganzug herumlief. Sie hätte sich »Mir egal« auf die Stirn tätowieren lassen können. Ich dachte darüber nach, ob sie ihren Sohn wohl zu einem prädestinierten Prügelopfer heranzog.
    » Das werden wir bald nicht mehr machen können«, sagte Tim, als wir eines Donnerstagabends in unserem Lieblingsrestaurant saßen. Er sagte es wie einen Witz, aber ich sah die nackte Angst in seinen Augen. Das werden wir bald nicht mehr machen können … Das sagte er ungefähr fünfzigmal
am Tag. Wenn wir ins Kino gingen: » Das werden wir bald nicht mehr machen können.«
    »Zum Glück«, sagte ich nach einem besonders inhaltsleeren Film über fünf nervige Teenager, die einer nach dem anderen von einem Monster im Wald ermordet wurden. »Diese Typen gehen mir auf den Geist. Sie sind peinlich und haben es verdient, gefressen zu werden. Ich gehöre einer anderen Generation an.«
    »Du weißt schon , warum in jedem zweiten Film Teenies mitspielen? Weil jeder, der älter ist, mit seinen Kids zu Hause festhängt.«
    Das war nicht abzustreiten. Aber wie ich anmerkte, lebten wir Gott sei Dank im Zeitalter der DVD, und falls sich herausstellen sollte, dass uns das Kinoerlebnis wirklich unerträglich fehlte, konnte ich immer noch den Sessel vor das Sofa schieben, damit Tim jede Szene um die Silhouette meines Kopfes herum betrachten konnte.
    Ich teilte seine Furcht vor jeder Veränderung - wie auch nicht? Aber bei mir hatte das Grauen einen Beigeschmack von Nervenkitzel. Alle machen so ein Gewese um schwangere Frauen. Ich hatte nichts getan, worum irgendwer ein Gewese gemacht hätte. Und es gab in diesem Satz kein »seit …«.
    Ich hatte mir vorgemacht, dass ich genug Geld für einen Arzt hatte, der nur privat behandelte. So was tat

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