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Meine Spur löscht der Fluß

Meine Spur löscht der Fluß

Titel: Meine Spur löscht der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Othmar Franz Lang
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nur dorthin, wo ihr es hier so schön habt?«
    In der darauffolgenden Nacht träumte er. Er watete durch ruhiges, sehr klares Wasser. Und das Wasser reichte ihm bis zur Brust, obwohl es nicht tief war. Aber im Traum war Ishi noch ein Kind. Seiner Mutter reichte das Wasser bis zu den Hüften, und sie ging auf einen Wasserfall zu, der einen Baum hoch über eine Felswand herunterkippte. Sie schwammen ein Stück, bis sie wieder Boden unter den Füßen hatten. Der Wasserfall rauschte so laut, daß er nicht verstand, was ihm seine Mutter zurief. Aber sie sagte etwas, er sah es an ihrem Mund. Er wollte auch etwas rufen, das zerstäubende Wasser, das wie ein großer, kühler Schleier auf ihn zukam, raubte ihm jedoch den Atem. Er wollte rufen, er versuchte es, brachte aber keinen Ton hervor, und er bekam keine Luft...
    Da erwachte er. Sein Nachthemd klebte auf seiner verschwitzten Haut. Eine Weile überlegte er. Dann ging er zu seinem Schrank, holte eine Glasschüssel heraus, in der noch drei Pfirsichhälften in ihrem Saft schwammen. Ihr Geschmack erfrischte ihn und vertrieb ihm die Angst. Dann legte er sich wieder hin. Das Licht löschte er nicht mehr.

    Am nächsten Tag hörte sich noch Professor Kroeber seine Einwände an. Ishi hatte nicht »du« zum Professor gesagt, sondern die förmliche Yahi-Anrede gebraucht. »Ai’numa«, hatte er gesagt, »es ist ein gefährliches Unternehmen.« Und noch einmal brachte er alle Bedenken vor.
    Und der mudjaupa hatte ihm sehr aufmerksam zugehört und zum Schluß gesagt: »Ich verstehe dich, aber hast du auch daran gedacht, daß du dort wieder ohne Schuhe gehen wirst?«
    Ishi hatte nicht daran gedacht. Er versuchte, sich mit dem Vorhaben seiner weißen Freunde anzufreunden, obwohl es sehr schwer war. Sie wollten alle Stätten aufsuchen, wo er, Ishi, gelebt hatte. Und sie taten so, als wüßten sie nicht, daß überall dort, wo er gelebt hatte, andere gestorben waren. Viele andere. Und auf furchtbare Weise gestorben. Sie taten so, als wüßten sie nicht, daß die ruhelosen Seelen seiner ermordeten Leute dort, wo sie hinwollten, umherirrten. Männer, Frauen, Kinder. Sie machten ihm keine Freude mit dieser Reise. Sie weckten nur Erinnerungen, die er trotz einiger Anstrengungen noch immer nicht vergessen hatte. Und der mudjaupa, der big chiep, verstand ihn nicht, wenn er sagte: »Ishi, wir nehmen dich natürlich wieder mit zurück hierher ins Museum, denn jetzt ist hier dein Zuhause. Du mußt nicht dort bleiben.«
    Nein, sie erkannten nicht sein wahres Problem. Sie wollten Wowunupo mu tetna sehen, sein letztes Versteck in den Felsabstürzen des Canons. Wo sie zu fünft gehaust hatten, drei Männer und zwei Frauen, seine Mutter und seine Schwester. Später zu viert, als der junge Mann gestorben war. Gehaust hatten fast in Ruhe und Frieden, bis zu dem Tag, da urplötzlich die Landvermesser auftauchten und ihn beim Fischen entdeckten. Er wußte, daß sie am nächsten Tag ihr Versteck finden würden. Und sie fanden es. Oh, Mutter, Mutter, oh, Schwester!
    Aber Ishi hatte nicht viel Zeit für schwarze Gedanken. Kroeber, Waterman und Pope begannen die Ausrüstung für das Lager heranzuschaffen. Decken, Zelte, Kochgeschirr, Werkzeuge, Lebensmittel wurden aus den Wohnungen der drei ins Museum gebracht und dort bis zur Abreise ausgerechnet im Gebeineraum des Museums aufbewahrt.
    Das alarmierte Ishi aufs neue. Das konnte nichts Gutes verheißen, das mußte Unglück bringen. Er fand, daß ihn Popy am ehesten verstehen würde, und lief ins Krankenhaus hinüber und warnte ihn eindringlich.
    »Es ist nicht gut, was ihr macht!« rief er. »Ihr seht nur Gebeine, ihr merkt nicht die Geister. Gebeine sind geschändet, Geister beleidigt. Sie werden Gebeine verlassen und in Essen gehen, in Zelte und Decken und Werkzeug. Es gibt ein großes Unglück. Ein ganz großes Unglück.«
    Popy machte etwas ganz anderes, als Ishi erwartet hatte. Er nickte ernsthaft mit dem Kopf und gestand ihm, daß er bereits daran gedacht habe. Es ginge wirklich nicht an, daß sie die Geister in der Ausrüstung und den Lebensmitteln mit auf die Reise nähmen, da hätte schon die Bahngesellschaft eine Menge dagegen. Und deshalb habe er als »kuwi« alle erdenklichen Gegenmaßnahmen getroffen.
    »Was?« fragte Ishi.
    »Es liegt nichts offen herum. Alles ist verschlossen, eingesperrt, zusammengebunden, in Kartons verpackt und verschnürt, in Büchsen gelötet, sogar in Säcke eingenäht. Es ist unmöglich, daß deine Geister irgendwie in

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