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Meine total wahren und ueberhaupt nicht peinlichen Memoiren mit genau elfeinhalb

Titel: Meine total wahren und ueberhaupt nicht peinlichen Memoiren mit genau elfeinhalb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Simon.«
    In ihrer Stimme war irgendwas.
    Irgendwas war mit ihrer Stimme. Die klang auf einmal anders, wie von jemand anderem. Als wäre in ihrer Stimme eine zweite Stimme versteckt gewesen, und die kam jetzt raus.
    Ach, Simon.
    Das klang so, als würde es etwas bedeuten: das Ach und das Simon.
    »Was ist?«, sagte ich.
    Und da passierte es.
    Sie legte ihre Hand auf meinen Mund.
    Das stimmt nicht.
    Zuerst hob sie den Arm, und ich schaute hin. Sie hob den linken Arm mit dem blauen Ring am Daumen. Dann bog sie den Arm ab. Dann wartete sie zwei Sekunden oder fünf. Dann berührte sie mit der Innenseite der Hand meinenMund und einen Teil meiner Nase, obwohl das eigentlich unmöglich ist. So groß ist meine Nase nicht, dass man nur einen Teil berühren kann. Entweder man berührt alles oder gar nichts.
    Trotzdem streifte ihr kleiner Finger meine Nase nur. Der Rest der Hand bedeckte meinen Mund, der lag da drauf wie ein Handschuh aus Seide. Und er roch nach was, nach einer Creme oder einem Parfüm.
    Ich schnupperte. Sie nahm die Hand nicht weg. Mein Mund war ein wenig geöffnet, das ging nicht anders.
    Fast war die Hand nicht zu spüren, aber doch schon. Sie war da, und ich schaute nicht hin.
    Ich schaute Annalena an, die lächelte wieder. In meine Richtung. Nicht an mir vorbei zum interessanten Ausblick.
    Ihre Hand war ganz ruhig und warm und unverstehbar leicht.
    Und dann nahm sie die Hand weg.
    Aber das bemerkte ich nicht. Ich bemerkte es nicht gleich.
    Ich bemerkte es erst, als die Hand vor ihrem eigenen Mund auftauchte und da blieb. Jetzt hielt sie sich die linke Hand an ihren Mund. Mein Herz schlug zu meinem halb offenen Mund raus. Jeder in der Towers Lounge konnte mein Herz hören.
    Annalena sagte: »Übermorgen werd ich zwölf. Zum ersten Mal an meinem Geburtstag bin ich nicht in Berlin.«
    Da sah ich, dass sie ihre Hand nicht mehr vor ihren Mund hielt. Keine Ahnung, wann sie sie weggenommen hatte. Das ging alles zu schnell.
    Jil tauchte auf, mit einem Strohhut auf dem Kopf. Das war alles von ihr, was ich mitkriegte. Mehr schauen als bis jetzt schafften meine Augen nicht.
    Das ging alles viel zu schnell.
    Zu dritt fuhren wir in die Lobby runter.
    An der Bar stand meine Ma in ihrer weißen Schürze. Hausarrest für den Rest des Tages.
    Die Mädchen fuhren allein in die Stadt. Ich wollte was sagen, aber meine Stimme war verschwunden.
    Mein Vater wusste schon Bescheid, meine Ma hatte ihn angerufen, während ich zu Fuß nach Hause gegangen war.
    Ich saß im Zimmer und lernte Englisch. Geid wird Guide geschrieben und heißt Führer.
    Am Abend stellte mir meine Ma ein paar Fragen, und ich hätte schon gern geantwortet. Aber kein Ton kam aus mir raus.
    Meine Ma schlug die Tür meines Zimmers zu.
    In der Nacht träumte ich von einem fliegenden Lift, der sich in einen Zug verwandelte.
    Am nächsten Tag kam die Hand auf meinen Mund zurück. Irgendwann in der Schule kam sie zurück. Mein Herz schlug aus meinem Mund raus. Niemand hörte es. Ich rannte los und rannte und rannte und schwang michum den Zaun auf der steinernen Brücke. Und mein Schuh fiel in den Bach. Und ich robbte ins Gebüsch, so tief wie noch nie. Und Annalena hielt mir den Mund zu. Und ich kriegte keine Luft. Und ich starb. Und ich starb. Und ich starb.
    Und dann hörte ich auf zu sterben, keine Ahnung, wieso, und stieß einen Schrei aus.
    Ich schrie so laut, wie ich noch nie geschrien hatte.
    Ich wusste gar nicht, dass ich so eine große Stimme habe. Ich schrie den Boden an, die Wiese, den Strauch und die Blätter und die Äste.
    Ich schrie jeden einzelnen Zweig an und jeden einzelnen Halm. Mein Gesicht war so nah an der Erde, dass ich dachte, wenn ich noch lauter schreie, dann kommt aus der Erde ein Echo wie aus einer Schlucht, und dann hallt meine Stimme im Englischen Garten, und alle Krähen werden weiß vor Schreck.
    Ich kniete im Gras und krallte die Hände in die Erde.
    Ich schrie das ganze Grün an. Meine Stimme prallte volle Hütte vom Boden zurück.
    »Hallo, Simon!«, hallte eine Stimme.
    Meine Stimme zerplatzte wie eine Seifenblase, in die man mit einer Stecknadel piekst.
    »Hallo, Simon!«
    Monstermäßig erschrocken sprang ich auf.
    Äste fegten über mein Gesicht und rissen mir die Haut auf. Ich schlug mit den Armen um mich.
    Ich drehte mich im Kreis.
    Ich stolperte über einen Stein, der voller Moos war. Ich schaute überall hin.
    Überall war niemand.
    »Hab keine Angst, Simon«, sagte die Stimme. »Mein Name ist Echo. Ich bin eine

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