Meine Väter
Bronner neben der Blutgruppenbestimmung und allen übrigen Dokumenten brauchte, war der »groÃe Ariernachweis«, ein bis ins Jahr 1800 zurückreichendes erbbiologisches wissenschaftliches Gutachten.
Niemand in diesem Barackenkomplex interessierte sich dafür, was er dachte, getan oder geschrieben hatte. Hier zählte nur eins: Jude oder Arier.
An der EinlaÃsperre drängten sich die Menschen, Zweifelsfälle, wie er es war. Hier mag Arnolt Bronnen auf ihn und die Mutter gewartet haben.
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Sie ist unfähig zu beurteilen, wie ihr Vater sie empfing. Alles ist möglich. Mit unsicherem Lächeln, das die Angst verbergen sollte? Mit der GroÃspurigkeit des Prominenten der
Berliner Literaturszene, der überall durchkommt? Mit der glatten Selbstsicherheit eines Spielers, der vorsorglich die Karten gezinkt hatte? Oder gab es gar ein einverständliches Augenzwinkern zwischen ihm, seiner Mutter und dem alten Mann an ihrer Seite?
Je länger sie darüber nachdenkt, um so mehr verfestigt sich in ihr die Ahnung, daà Taktik und methodisches Denken zugrunde liegen müssen. Doch mit welchem Ziel?
Zusammen passierten sie die EinlaÃsperre, gingen auf eine der Baracken zu und lieÃen von einem Beamten ihre Personalpapiere prüfen. Die Abteilungen I und II , in die sie verwiesen wurden, waren in einer überheizten häÃlichen Baracke, es roch nach Schweià und Demütigung, nackte Glühbirnen warfen grelles Licht. Hier wurden die zweifelhaften Fälle untersucht.
Arnolt wurde zuerst aufgerufen. Er sah, wie der Beamte das in Wien ausgestellte Papier hervorzog. Er wuÃte, was darauf stand: ein Beamter der Reichsstelle für Sippenforschung, Zweigstelle Wien, hatte notiert, daà er aufgrund der vorgelegten Dokumente Halbjude sei, sein Vater Ferdinand Bronner Volljude, seine Mutter, eine geborene Schelle, deutschblütig.
Als nächster kam Ferdinand an die Reihe. Auf die sogenannte Sanitarische Untersuchung war er gefaÃt. Er befolgte die militärisch knappen Anweisungen, stieg auf die Waage, lieà seinen Brustumfang vermessen, atmete auf Befehl gehorsam ein und aus, die Lungen wurden abgehört. Seine KörpergröÃe wurde gemessen, seine nackten FüÃe begutachtet, dann durfte er seine Hose wieder anziehen, nicht jedoch Hemd, Socken und Schuhe. Er wurde in den Nebenraum geschickt, während Martha in den Untersuchungsraum geführt wurde.
Die nun folgende Prozedur war Ferdinand unbekannt.
Männer in weiÃen Kitteln saÃen an Tischen, auf denen merkwürdige Instrumente ausgelegt waren. Ihm wurde befohlen, sich auf einen verstellbaren Hocker zu setzen, frontal vor ihm nahm einer der Männer Platz. Er wurde zwischen den Augen betastet, ein Stift markierte in der Mitte einen Punkt, ein zirkelartiges Instrument, auf seine Nase angesetzt, wurde hin- und hergeschoben. MeÃzahlen wurden genannt und aufgeschrieben. Am Hinterkopf Ferdinands wurde ein anderes Instrument in Zickzacklinien auf- und abgeführt, wieder folgten MeÃzahlen. Das nächste Instrument fuhr zwischen Ferdinands Lippen, vermaà Stirnwinkel, Nasenproportionen, Ohrenansatz und Kinn. Und immer wieder die Zahlen, die ein Gehilfe wiederholte und dann notierte. War das die wissenschaftliche Methode, mit der sich nachweisen lieÃ, ob ein Mensch Jude oder Arier war?
SchlieÃlich muÃte Ferdinand sich an die Wand stellen. Von oben sauste ein Fallbeil auf ihn herab. Wieder eine Zahl. Auf Brusthöhe wurde ein Apparat angesetzt, eine Art Schieber, den er mit ausgestrecktem Arm so weit von sich stoÃen sollte, wie er es vermochte. Wieder Zahlen, wiederholt und notiert.
Als nächstes tastete eine überdimensionale Pinzette seinen Schädel ab, rià ihm ein Büschel Haare heraus. (In seinem Protokoll erklärt Arnolt Bronnen, man hätte eine Art Besen aus Haaren verschiedener Tönungen über sein Haupt gehalten und ihm ein Haarbüschel geraubt, weil, so Bronnen, »eine Theorie im Schwange war, wonach das jüdische Haar einen anderen Querschnitt hätte als das arische«.)
Die Methode der Entwürdigung wurde mit der Aufnahme durch eine Spezialkamera gekrönt. Verbrecherfotos, frontal, im Profil. Neben sein Auge hielt man Glasaugen
in verschiedenen Farben: »Etwas heller als zwo«, sagte einer der Männer an.
Nach insgesamt drei Stunden waren sie mit ihm fertig, kurz darauf auch mit seiner Frau. Noch zweimal muÃten Ferdinand und
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